122. Ashberys Rimbaud

Mit 16 hatte er sein erstes Meisterwerk fertig, das 100-Zeilen-Gedicht „Das trunkene Schiff“. Im Leben war Rimbaud frühreif; warum sollte er es nicht auch im Tode sein? Und so übergab der blondhaarige blauäugige Genius, den Victor Hugo „Baby-Shakespeare“ nannte, mit 21, im Aufbruch zu einer Karriere als Waffen- und Kaffeehändler in Afrika, ein schmales unpaginiertes Manuskript an seinen Ex-Lover, den Dichter Paul Verlaine (der gerade zwei Jahre Haft in einem belgischen Gefängnis hinter sich hatte, weil er in einem Brüsseler Hotelzimmer auf Rimbaud geschossen hatte). Rimbaud gab Verlaine die 43 Gedichte, die sein größtes Meisterwerk werden sollten, Illuminations, bat ihn darum, einen Verleger zu finden und marschierte stracks und entschlossen aus der Zeit.

Um es gleich zu sagen: John Ashbery, den man mit Fug Amerikas größten lebenden Dichter nennen kann, hat die gültige englische Übersetzung der Illuminations verfaßt. Die amerikanische Hardcoverversion (Norton) ist schön ausgestattet; alles an ihr (außer vielleicht der  Waschzetteltext der Rockgöttin Patti Smith, in dem sie Ashberys Übersetzung “a transmission as pure as a winged dove driven by snow” nennt, “rein wie eine vom Schnee angetriebene geflügelte Taube“) ist liebenswert. Sie ist der von Wyatt Mason in seinem Rimbaud Complete (Modern Library) weit überlegen. Ashberys Übersetzung ist sowohl stur zeilengetreu als sacht und sorglich; er reduziert Rimbauds Einsatz von Homonymen und verleiht diesen Illuminations ein Gefühl von Harmonie und Stetigkeit, das andere Übersetzungen oft vermissen lassen. / Michael Lista, National Post (Kanada) 29.7.



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