Eine Zeitreise ins Vietnam der 1960er und 1970er Jahre
Wiederaufbau unter widrigsten Bedingungen
Anna Mudry startete ihre Vietnam-Reisen beide Male in Hanoi. Sie wurden von Mitarbeitern einer dortigen Zeitung organisiert, was nicht nur die Route, sondern auch die Begegnung mit Einheimischen umfasste. Mudry sah Städte, die im Laufe des Vietnam-Krieges von US-Truppen dem Erdboden gleich gemacht wurden, und traf auf Menschen, die unermüdlich daran arbeiten, dass die Ernährung sichergestellt wird, alle ein Dach über dem Kopf haben sowie die Verkehrswege und die Schulen neu gebaut werden. Sie berichtet von Menschen, die während des Krieges ein unterirdisches Wohn-, Versorgungs- und Tunnelsystem gegraben hatten und von Kindern, die viele Monate kein Sonnenlicht gesehen hatten, weil der Aufenthalt im Freien wegen der ständigen Bombardements zu gefährlich war. In dieser krisengeschüttelten Gesellschaft hat der Einzelne seine eigenen Bedürfnisse zurückgestellt, um seine Arbeitskraft der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. So sahen sich Ehepartner oft monatelang nicht, und Kinder wurden von ihren Großeltern aufgezogen, weil ihre Eltern im Krieg kämpften oder für den Straßenbau eingeplant waren. Immer ging die Gemeinschaft dem Einzelnen und seinen Angehörigen vor.Anna Mudry betont in ihrem Vorwort, dass sie sich nicht als Kriegsberichterstatterin gesehen hat. Es war ihr Ziel, mit den Menschen in Kontakt zu kommen und von ihnen zu erfahren, wie sie die Auswirkungen der massiven Angriffe der US-Streitkräfte, die auch den Einsatz von chemischen Kampfstoffen wie Napalm oder Entlaubungsmitteln umfassten, erlebt und überstanden hatten. Die Autorin weist ausrücklich darauf hin, dass sie eine subjektive Berichterstattung hier für die beste Methode hält, um sich der Wahrheit so weit wie möglich zu nähern. Das Ergebnis sind Schilderungen über erschütternde Lebensbedingungen der vietnamensischen Bevölkerung, die alles daran setzt, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen.
Wie war's?
Vietnam - Gesichter und Schicksale gibt einen tiefen Einblick, wie es der Bevölkerung insbesondere Nord-Vietnams, das offiziell den Namen Demokratische Republik Vietnam (DRV) trug, im Verlauf des 20 Jahre dauernden Vietnamkriegs ergangen ist. In dieser Zeit haben zwischen zwei und fünf Millionen Menschen ihr Leben verloren, die genaue Zahl kennt niemand. Anna Mudry beschäftigt sich sowohl mit Einzelschicksalen als auch mit den Lebensumständen, denen die Bevölkerung unterworfen war und die wegen ihrer Tragik und Verzweiflung oft sprachlos machen. Sie versucht jedoch auch, ihren Lesern einen Teil der vietnamesichen Geschichte näherzubringen. Es ist eine Geschichte, die von Kolonialismus, Verrat und Gewalt geprägt ist und sich ohne eine nähere Beschäftigung mit ihr nur schwer erschließt. Wer sich mit ihr bislang noch nicht auseinandergesetzt hat, sollte vor dem Lesen des Buches einen Blick auf die Zeittafel werfen, die Anna Mudry nach dem letzten Kapitel angefügt hat.Sowohl an der Wortwahl als auch dem Schwerpunkt ist zu erkennen, dass die Autorin als DDR-Journalistin nach Vietnam aufgebrochen ist; die DDR hatte sich damals vorbehaltlos an die Seite der DRV gestellt, was sich auch in manchen Formulierungen Mudrys widerspiegelt. Doch trotz dieser ideologisch besetzten Position ist Vietnam - Gesichter und Schicksale ein Buch, das vor allem für die Generation, die nach dem Ende des Vietnamkriegs aufgewachsen ist, interessant ist. Anna Mudry hat ihrem Buch mehr als 40 Fotos beigefügt, die das Gelesene anschaulich machen.
Vietnam - Gesichter und Schicksale ist im Pirmoni-Verlag in der Reihe menschen unterwegs als Taschenbuch erschienen und kostet 14,90 Euro. Das Buch wurde mir von der Agentur Literaturtest zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke.