120. Todestag Bismarcks: Das Foto, das niemand sehen sollte

Kopfbinde, übergroßes Taschentuch, Nachtgeschirr: Das verstörend-intime Bild vom toten Bismarck wurde erst Jahrzehnte später veröffentlicht. Die Geschichte eines dramatischen Rechtsstreits hinter den Kulissen - und die Geburtsstunde der Paparazzi.
120. Todestag Bismarcks: Foto, niemand sehen sollte
Hochsommer 1898: Auf dem abgeschiedenen herrschaftlichen Anwesen der Bismarcks in Friedrichsruh herrscht gedrückte Stimmung. Seit dem Tod seiner Gattin 1894 hat sich Otto von Bismarck weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und versuchte sich auf dem Land - mehr schlecht als recht - in politischer Abstinenz. Mit dem Rückzug ins Private ging ein körperlicher Verfall einher.

Bereits Mitte 1897 hatte der Hausarzt bei dem greisen Ex-Reichskanzler erste Anzeichen von Altersbrand diagnostiziert, eine chronische Blutunterversorgung, die zum qualvollen Absterben von Gewerbe führt. Auch eine Folge eines exzessiven Lebenswandels, von dem Bismarck trotz seiner Krankheit nicht abließ. Er aß und trank auch jetzt so maßlos, wie er es immer tat. „ Von Kaffee", berichtet der Hausarzt Chrysander bereits im Dezember 1894, habe er „zwar etwas Abstand genommen, Alkoholika dagegen mehr genommen. Neulich, z.B., als er 11 Uhr aufstand und Reißen empfand, erst 3 Eier mit Cognac, dann - Champagner, dann 1 Glas Grog, Alles vor dem Frühstück, das um 12 Uhr beginnt und zehn verschiedene Sachen bringt." [1]

Kaiser Wilhelm: Feind bis in den Tod

Während in der Öffentlichkeit weitgehend das Märchen vom unverwüstlichen „Ewigen Kanzler" erzählt wurde, verschlechterte sich die Gesundheit Bismarcks tatsächlich rapide. In den letzten Julitagen 1898 dämmerte der sicherlich bedeutendste deutsche Politiker des 19. Jahrhunderts qualvoll seinem Ende entgegen - und keiner sollte etwas davon erfahren. Selbst der Kaiser höchstpersönlich, Wilhelm II. wurde hingehalten, was auch an dem zerrütteten Verhältnis der beiden lag. Wilhelm war für Bismarck nach seinem Rauswurf 1890 politisch ein rotes Tuch. Noch in seinen letzten Stunden nannte Bismarck den Kaiser einen „dummen Jungen".

Dass es Bismarck schlecht geht und sein Tod bevorstehe - darüber kursierten ab Mitte der 1890er-Jahre in Journalistenkreisen Gerüchte, aber nur wenige Eingeweihte wussten in den letzten Wochen neben den engen Familienangehörigen und Angestellten auf Friedrichsruh über den tatsächlichen Stand der Dinge Bescheid. Unter den Insidern waren auch zwei geschäftstüchtige Fotografen, die zielstrebig den finanziellen Scoop ihres Berufslebens planten. In einer Zeit, in der eine Massengesellschaft erst langsam im Entstehen begriffen war und der Boulevardjournalismus in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte, waren Max Priester (sic!) und Willy Wilcke so etwas wie mediale Trendsetter. Sie wussten um das öffentliche Interesse am Privatleben Prominenter und machten daraus, wie noch wenige, ein Geschäftsmodell. Sie waren Sensationsjournalisten, die ersten „Paparazzi", ohne dass man das Wort damals schon kannte. Sie zahlten Bismarcks Förster Louis Spörcke gutes Geld, um immer über die aktuellen Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten zu werden. Sie wollten reich und berühmt werden - berühmt sind sie geworden.

Eigelb und Cognac als Finale

Am 30. Juli 1898 spitzte sich die Lage in Friedrichsruh dramatisch zu. Bismarck aß nicht mehr und erwartete im Bett sein Ende. Nach Aussage seines Sohn Herberts bereitete der Arzt kurz nach 18 Uhr „in einem Glase Eigelb und Cognac [zu]; wir richteten den Kopf mit Hilfe von Kissen etwas auf, Chrysander [der Arzt] brachte das Glas an den Mund und löffelte ein wenig hinein, indem er das Getränk nannte: mein Vater öffnete die Augen, schob den Löffel weg, rief ‚vorwärts', ergriff das Glas und trank den Inhalt; das war das letzte Wort, das er gesprochen hat." [2] Am späten Abend starb Bismarck. „Er hob das linke Augenlid, das Auge erschien nicht gebrochen, aber wie weit in die Ferne schauend, um 10.57 [Uhr] erfolgte der letzte Atemzug, nach langer Pause". [3]

Nationalgott der Deutschen

Bismarck war tot, aber der Bismarck-Mythos sollte weiterleben. Alles wurde getan, damit das virile Bild des deutschen Reichsgründers keinen Schaden in der Öffentlichkeit nahm. Hektische Betriebsamkeit beherrschte in der Folge die Szenerie. Das Gut Friedrichsruh wurde von der Familie zu einer Art Festung ausgebaut. Die Leiche wurde sorgfältig präpariert, doch zu sehen bekamen sie nur ganz wenige Ausgewählte. Auch dem Kaiser höchstpersönlich wurde ein persönlicher Abschied verwehrt. Die Familie tat auch nach Bismarcks Ableben alles, um den verhassten Hohenzollern zu demütigen. Als Kaiser Wilhelm II. am 2. August vor Ort Abschied nehmen wollte, war der Sarg bereits festgenagelt.

Die veröffentlichte Meinung war längst dabei, die großen Elogen auf den großen Staatsmann zu halten und die in großen öffentlichen Trauerfeiern bereits eingeleiteten Überhöhung von Bismarck zum Nationalgott der Deutschen publizistisch zu unterstützen. Der Mythos entkoppelte sich langsam von der Person und begann ein Eigenleben zu führen. Der Sarg Bismarcks wurde erst nach mehr als sechs Monaten (!), am 16. März 1899 in sein Mausoleum auf dem benachbarten Schneckenberg überführt.

Der Kampf um das Bild des toten Bismarck

Die Bismarcks waren sich immer der Bedeutung des Mediums Fotografie für das Ansehen in der öffentlichen Meinung bewusst. Otto von Bismarck setzte sich vor Kamera oft bewusst in Szene, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Alle Aufnahmen von ihm mussten vor Veröffentlichung genehmigt werden.

Umso größer war der Schock, als inmitten der Aufregungen nach dem Ableben des Hausherrn am 2. August 1898 in der Täglichen Rundschau eine Anzeige mit eindeutiger Anfrage erschien: „Für das einzig existierende Bild Bismarcks auf dem Sterbebette, Aufnahmen einige Stunden nach dem Tode, Original-Fotografie, wird ein Käufer resp. Ein geeigneter Verleger gesucht." Tatsächlich hatte der Förster den beiden Hamburger Fotografen Priester und Wilke in der Nacht zum 31. Juli 1898 Zugang auf das Schlossgelände ermöglicht. Über die Fensterbank stiegen sie in das ebenerdige Sterbezimmer ein. So konnten die beiden Bismarck ablichten, so wie er wenige Stunden vorher gestorben war: den Kopf mit Kopfbinde und bunten Taschentuch versunken in einem wilden Kissenmeer, neben dem Bett noch das Nachtgeschirr.

Echt, authentisch, intim, voyeuristisch - und vor allem zutiefst menschlich.

Im Hotel kamen erste Ahnungen, was sie tatsächlich auf Bild hatten. Die beiden Hamburger bekamen erste Skrupel und entschieden, auch eine „entschärfte" Bildvariante herzustellen. Sie retuschierten dafür Nachttopf, Taschentuch aus dem Bild, machten den Toten jünger und schenkten ihm ein blütenweißes Kissen. „Gephotoshoppt" wurde schon, als sich die Menschen so etwas wie „Photoshop" noch nicht mal vorstellen konnten.

Wie erhofft, meldeten sich schnell viele Interessenten. Der Leiter des Deutschen Verlags bot Wilke und Priester umgerechnet in heutiges Geld über 200.000 € und eine Umsatzbeteiligung. Aber ein anderer Nebenbuhler machte den beiden einen Strich durch die Rechnung. Der Schriftsteller Arthur Mennell arbeitete seit längerem an einem Werk über Bismarck und erhielt am frühen Mittag des 31. Juli 1898 zufällig den Auftrag, für die Familie ein Foto des toten Patriarchen zu schießen - er war gerade zufällig auf dem Gelände zugegen. So lichtete auch Mennell den wertvollen Leichnam ab. Der Familie gab er das Ehrenwort, über die Fotos zu schweigen und nicht zum Eigennutz zu verwenden. Wie „echt" oder inszeniert die Fotos waren - keiner weiß es genau. Denn zu sehen bekommen hat sie die Öffentlichkeit nie.

Juristischer Kampf mit allen Mitteln

Als Mennell hörte, dass die ihm bekannten Wilke und Priester vor ihm unerlaubt Fotos im Sterbezimmer gemacht hatten und diese zu Geld machen wollten, sinnte er auf Rache. Voller Wut verriet er die beiden an die Familie Bismarck. In einem Telegramm nannte er ihren Aufenthaltsort und ermutigte zu sofortigen Maßnahmen: „ Melde gehorsamt (...). Beide wohnen Hotel de Rome. Kunstverleger Eduard Thiele hat die Aufnahmen gesehen. Es ist eine wirkliche Photographie. Staatsanwaltliche Verfolgung und Confiscation nach Urheberrecht sofort möglich." [4] Gleichzeitig versuchte er Zeitungen wie dem Berliner Tageblatt seine acht Fotos schmackhaft zu machen. Er betonte dabei zwar die Notwendigkeit der familiären Zustimmung zu den Bismarck-Fotos, glaubte aber anscheinend, dass die Bismarcks unter dem Druck der neugierigen Öffentlichkeit erlaubten, wenigstens eines seiner Foto veröffentlichen zu lassen.

Doch weit gefehlt!

Der soziale Vernichtungskampf gegen Wilke und Priester

Die Bismarcks wollten keines der Fotos irgendwo veröffentlicht sehen und gingen gegen Wilke und Priester mit allen juristisch erlaubten und unerlaubten Mitteln vor. Bereits am 4. August wurde - ohne richterliche Anordnung - die Platte des Bildes in einer Polizeiaktion beschlagnahmt. Bei einer nachträglichen Hausdurchsuchung wurden weitere Vervielfältigungen von den Bildvarianten konfisziert. Aber den Bismarcks reichte all dies nicht; sie wollten die beiden Fotografen bestrafen - und beruflich wohl auch vernichten. Sie strengten langwierige straf- und zivilrechtliche Gerichtsprozesse u.a. wegen Hausfriedensbruchs an und wollten jede Möglichkeit einer Veröffentlichung langfristig verhindern.

Hat jeder das Recht auf das eigene Bild oder gibt es bei Personen der Zeitgeschichte auch ein Recht der Öffentlichkeit auf Information, eben auch in Form eines Bildes? Diese grundsätzliche Frage, elementar für den Foto- und auch Boulevardjournalismus, wurde in diesem Fall erstmals entschieden - zugunsten des Persönlichkeitsrechts. In dem richterlichen Urteil vom 20. Februar 1899 hieß es, die Fotografen hätten allein aus „Geldgier" gehandelt und wären sich der Rechtswidrigkeit ihrer Tat bewusst gewesen. Die Bilder gingen in das Eigentum der Bismarcks über. Willy Wilke musste für acht Monate ins Gefängnis, Max Priester fünf Monate. Weitaus schlimmer war die lebenslange gesellschaftliche Stigmatisierung. Priester starb mit 45 Jahren - im Irrenhaus.

Das Bild erschien erst 53 Jahren Jahre später. Die „Frankfurter Illustrierte" (40/1952) veröffentlichte es erstmals unter dem Untertitel „Ein ergreifendes Bild von der Majestät des Todes". Was für die Menschen um die Jahrhundertwende ein Skandal war, war nun kein Thema mehr in der Öffentlichkeit. Die Zeit war über Bismarck hinweggegangen. Aus einem moralisch fragwürdigen journalistischen Scoop wurde eine historische Quelle. „Auf paradoxe Weise hat [...] das Bild des Toten dazu beigetragen, uns den fernen, fremden Bismarck zu erhalten, wenn nicht gar näher zu bringen. Die Aufnahme bewies: Auch Bismarck ist eines reichlich normalen, wenn nicht gar trivalen Todes gestorben. Ein Mythos ist Mensch geworden." [5]

[1]Zitiert aus: Lothar Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen - Reportage einer Tragödie, München 1998, 108.
[2] Ebda, 66.
[3] Ebda, 69.
[4] Ebda, 180.
[5] Hans-Michael Koetzle, Photo Icons - Die Geschichte hinter den Bildern - Band 1, Taschen Köln 2002, 115.

Allgemein u.a. : Eberhard Kolb, Bismarck, München 2009. ( C.H.Beck Wissen)

120. Todestag Bismarcks: Das Foto, das niemand sehen sollte

Der Münchner Christoph Marx ist Publizist und Lektor und lebt in Berlin. Er arbeitet als Autor und Redakteur für viele namhafte Verlage und veröffentlichte bzw. verantwortete inhaltlich zahlreiche Werke, v.a. zu historisch-politischen, gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Themen.Referenzliste unter Autor und Redakteur/Lektor.


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