12. Oktober 2010, Über die Kunst des Lesens , 5.45 Uhr

12. Oktober 2010, Über die Kunst des Lesens , 5.45 Uhr

Was soll ich sagen, Toiletten spielten eine große Rolle, denn schon waren wir im Haus des Kunstvereins, sollte dort doch gelesen werden, rannte Seraphe hinab, bin gleich wieder da, klar doch, also zückte ich meine Zigaretten, denn irgendetwas muss man ja tun, wenn man da so in der Gegend herum steht und die Luft schon voller Löcher vom vielen Starren ist. Freund Herbert kam um die Ecke, er war mit dem Zug aus Fulda angereist, schön dich zu sehen, ich qualmte und sah dumm aus der Wäsche. Ich schnippte die Zigarette in einem weiten Bogen Richtung Fußgängerzone, kein Problem, dachte ich, da wird sich schon einer finden, der sie austritt. Die Gewalt ist überall auf den Straßen.
Einmal ausschreiten, schon war ich im Haus, ach, da kam ja der Verleger, Sie dürfen ihn Herr Seeling nennen, ich bleibe bei Jens.
„Alles klar?“, fragte er.
„Bin etwas nervös.“
„Du musst einfach nur langsam lesen.“
„Danke.“
Die Seraphe stieg zur Erdoberfläche, sie grüßte den Verleger, Freund Herbert, ich wollte sie auch schon fast grüßen, verflucht, ich war also wirklich nervös.
Wir blablaten, dann kam Seraphes Schwester Gauß, sie küsste hier, lächelte dort, ich fragte, ob sie Lust darauf hätte, mir als Sandsack zu dienen. Muss mich einfach mal abreagieren, sagte ich.
Ein Stockwerk höher lag der Vorleseraum, wir gingen hinein, da saß bereits eine Zuhörerin in der ersten Reihe, sie lauschte einem unsichtbaren Autor, sah fleißig nach vorn zum Pult mit Mikro. Gute Frau, dachte ich, die könnte ich als Lauscherin für eine Lesetour fest engagieren. Gute Zuhörer sind heutzutage rar.
Ein paar Leutchen verirrten sich, ach, sagte Seraphe, das könnte Melusine mit Morel gewesen sein, hm, könnte sein, weiß man nicht, geh einfach mal hin und frag. Tat sie auch.
Sie waren es, die unbekannten Familienangehörigen aus dem Netz. Ich schlenderte mich an sie ran, fuhr die Hand aus, wir begrüßten uns, ich erzählte von meiner Nervosität, dachte, du Idiot, warum bindest du das auch wieder jedem auf die Nase, weil du ein alter Plaudertasche bist, kam rasch die Antwort, Fresse, bellte ich zurück.
„Wir fangen jetzt an“, sagte der Verleger, ich nickte dem Verleger zu, dachte, ich müsste eigentlich noch auf Toilette, dann eben nicht.
Da saß ich dann, ausgeliefert, es waren tatsächlich noch mehr Leute aufgetaucht, der Verleger hielt seine Rede, er stellte mich vor, er hatte die richtigen Worte und die richtige Länge gewählt, Hut ab, dachte ich und zog eine imaginäre Kopfbedeckung, die ich dann neben mir fallen ließ.
Ich las, und was soll ich sagen, es lief einfach gut, wow, ich war mit mir zufrieden, ich begann mich zu lieben, es wurde besser, aus dem Raum nebenan, in dem auch gelesen wurde, brandete Applaus. Schnauze, dachte ich rüber in die andere Lesung. Hatten die Leute denn gar keinen Anstand mehr. Aber ich hatte die Sache im Griff, ich war der Mann der Stunde, und irgendwann war es vorbei. Ich schaute auf, da waren noch Zuhörer gekommen, und was noch wichtiger war, ich hatte niemanden zur Tür raus gelesen. Bestimmt hatte Seraphe Gewalt angedroht. Wir hatten bisher noch jede Lesung mit einer gehörigen Portion Aggressivität an uns gerissen, diese auch, deshalb war sie nun auch unser Besitz.
Ich schob den Stuhl nach hinten, klopfte mir auf die Schulter und grinste mich dann zu Seraphe, dem Verleger, Melusine und Morel.

(Fortsetzung folgt)



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