Ein Kommentar zur gegenwärtigen (aber nicht neuen) Diskussion.
Von Marius Hulpe
Vor einigen Jahren bemühte Ron Winkler den Begriff des Modus, der innerhalb einer sich entwickelnden Poetik Schwankungen unterliege. Misstrauen gegenüber dem einmal erarbeiteten und nur vermeintlich Eigenen war die Waffe, die er sich und anderen in der Begegnung mit dem eigenen Werk empfahl.
Auf der anderen Seite findet sich, etwa an Schreibschulen, aber auch im Bewusstsein von Feuilletonisten, Lektoren und allerlei Multiplikatoren der Begriff vom Ton, oder auch Sound, den ein Autor macht, wenn er denn – endlich – ganz bei sich angekommen sei.
Beide Begriffe, Modus und Sound, stehen einander nicht nur theoretisch diametral gegenüber. Doch an ihnen lässt sich ganz gut zeigen, worin das Dilemma vieler Lyriker, aber auch manches Prosaschriftstellers besteht. Jenes Dilemma, in dem die nun wieder hochköchelnde Diskussion um eigentlich sehr wenig ihren Ursprung nimmt.
An den Werken Mayröckers (eigentlich möchte ich nun nicht so viele Namen aufzählen, nenne aber der Deutlichkeit halber noch ein paar), Handkes, Ror Wolfs, Brinkmanns, früher Kafkas oder Musils haben wir gelernt und erfahren, dass authentische, grabende, für das Schreiben lebende Schriftsteller unter anderem dadurch zu solchen werden, dass sie ihr eigenes Schreiben immer wieder hinterfragt haben, selten oder nie Maßware geliefert haben, sich nicht den Geschmäckern angebiedert haben, weil ihr innerer Wasserspiegel sie gar nicht erst so weit auftauchen ließ.
Und haben wir auf der anderen Seite nicht immer schon so empfunden, dass es irgendwann billig und fad wird, wenn einstige Großmeister wie Stephen King, Bernhard Schlink oder Durs Grünbein den immer selben Sound reproduzieren, sich nicht mehr weiterentwickeln wollen, weil es doch so gut läuft und sie ganz bei sich angekommen zu sein scheinen? Zweifelsohne förderte dieses bei sich angekommen sein seit jeher ihre Verkäuflichkeit. Doch genauso sicher hatte das noch nie den Effekt, dass nachfolgende Autorengenerationen sie als Vorbilder in Fragen der Beweglichkeit, Glaubwürdigkeit und Innovation empfanden. Germanisten oder Mittelstufenlehrer sprangen hierauf vielleicht schon eher an, da ihre Absicht der des Buchhändlers zumindest verwandt ist, wenngleich mit unterschiedlichen Vorzeichen: wo der eine wiedererkennbare Ware wünscht, um Kunden zu binden, freuen sich die anderen über klare Muster zum Zweck der Pädagogisierung. Wo käme man schließlich hin, wenn man Schülern einen Autor vor die Nase setzt, der heute dies sagt, morgen das, heute so schreibt, morgen so? Die deutsche Öffentlichkeit fordert seit jeher von Autoren, bei sich zu bleiben, nicht abzurücken von der einmal gefundenen und bewährten Haltung.
Hans Magnus Enzensberger war einer derjenigen, wenn nicht derjenige, der über Jahre hinweg die Überraschung selbst zum Wiedererkennungswert gesteigert hat. Dies brachte ihm sicher nicht nur Freunde. Doch war es in jenen Zeiten der ständigen Überraschung nicht spannender, ihn zu lesen, als heute, wo seine Gedichte relativ erwartbar, stromlinienförmig und daher noch besser verkäuflich sind als sie es ohnehin schon immer waren?
Was die Gegenwartslyrik betrifft, so finden sich Jan Wagner und Marion Poschmann vielleicht aus dem Grund im Boot der zumindest ein wenig besser verkäuflichen wieder, weil bei ihnen der Grad der Wiedererkennbarkeit besonders hoch ist. Doch zugleich kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass Wiedererkennbarkeit bei Weitem nicht das höchste aller Güter ist. Vielmehr hat eine neue Generation naturalisiert, was, um auf ihn zurückzukommen, schon Ron Winkler Anfang der Nuller Jahre erkannte: die Reboots und Übersprunghandlungen, die Abkehr vom Eigenen und die Wiederentdeckung des Eigenen sind das wahrhaft Spannende, nicht der sich an sich selbst zerstreuende Sound. Dass es ihm dabei – nicht zu seinen Ungunsten – nicht immer gelungen ist, dem eigenen Credo zu folgen – geschenkt. Sieht man sich seine allerneuesten Gedichte an, lassen sich leicht die wünschbaren Langzeitfolgen solch beweglichen Denkens erkennen.
Zugleich herrscht mittlerweile weitgehend Konsens darüber, dass das Experimentelle und das Konventionelle einander überhaupt nicht widersprechen müssen. Die jüngeren scheinen mir dies – grob gesprochen und sicher von mancher Ausnahme unterwandert – noch ein bisschen besser begriffen zu haben als die älteren. Die essayistischen Grabenkämpfe sind etwas für allerspätestens in den 70er Jahren geborene. Wer jünger ist, hat erkannt, dass jedem Autor gelungene und weniger gelungene, tendenziell experimentelle und tendenziell konventionelle Texte unterlaufen können. Vielleicht lässt sich meine These ein wenig vom Jugendwahn blenden. Aber: mir dünkt es so.
Ebenso vergegenwärtige man sich nur einmal, dass es nicht primär das Phänomen Lyrik ist, das sich der Verkäuflichkeit sperrt. Wenn in diesem Herbst der Prosaband des Niederkrüchteners Sebastian Polmans bei Suhrkamp erscheint, ist es trotz eines gewissen zu erwartenden Medienechos kaum denkbar, dass er die 3000er-Marke knacken wird. Sein Buch handelt von einem Tag eines einzelnen Jungen im Dorf seiner Kindheit: Ein Experiment, ein spannendes. Ein Prosatext, unverkäuflich.