Die roughbooks-Bände sind innovativ und gute Lektüre und eine verlegerische Tat, aber manches der früheren Produktion hätte darin nicht Platz. Einige der anspruchsvollen Übersetzungsprojekte gehören dazu, die Zanzotto-Ausgabe, Ghérasim Luca, Lapsus linguae / Das Körperecho. Frz./ Dt., Gellu Naum…, die Reihe der Pastior-Lektüren mit Wilhelm Müller, Charles Baudelaire, Welimir Chlebnikow, Gertrude Stein, die Dokumentationen zur Lautpoesie, Otto Nebels Runenfuge… Soviele Bücher, die es ohne diesen Verleger und seinen Sponsor einfach nicht gäbe (der Verlust für die deutsche Lyrikszene noch kaum geahnt – ja haben wir den Gewinn schon verbucht?).
Auch die Pasolini-Ausgabe als Drei- oder Mehrfachübersetzung gehört in diese Reihe. Das Buch ist ein gewaltiger Palimpsest-Bau, rudimentär beschrieben: Originaltext und Übersetzung von Christian Filips auf jeder Seite, wobei im Original der friulanische Text das Italienische überlagert, in der Übersetzung Luthers Deutsch, der hohe Ton des österreichischen Decadentismo, die Fachsprache der 68er und das späte Mittelhochdeutsch, das schon den roughbooks-Mechthild-Band vorbereitet…, alles das vervielfacht durch die Dreigestalt des Pasolinitexts, das Buch stellt den frühen Band und ein spätes Remake von 1974 mit oft fast gleichen Reimen, Titeln, Versen gegenüber dergestalt daß man auf jeder Doppelseite mindestens vier übereinanderlagernde Gedichte lesen kann… Hinzu kommt als dritter Teil, dem Doppel- und latenten Mehrfachbuch nachgestellt, der späte „Dunckle Enthusiasmo“, „quasi ein Appendix, der ohne den Rest nichts bedeutet“, sagt Pasolini.
Beim Wiederlesen sprangen mich so viele glänzende Bruchstücke an – die knapp skizzierte Fülle läßt sich in meiner Anthologie nicht wiedergeben, nicht in Einzeleinträgen. Ich entscheide mich für ein Stück aus diesem „bedeutungslosen“ Rest (hier stehen die Texte nur auf den ungeraden Seiten, weil es ja kein frühes Gegenstück gibt. Ein Quant Luxus gehört ja zum Gedicht, ein Luxus der Sprache mit ökonomischen Konsequenzen.
Salerno
Armb andlitz des diebes, oder eyns kindtleyns:
mentsch, als er werden mus, hat er getruncken
von welt, von muttern wasser des geschicks.
Der schatte schwartz jm awg von süden funckelt
dem andlitz am grunde so rundt als das brodt,
das ist verzweyffelten gehorsams schatte.
Geborn eyn kriegsknecht, eyn landtmann zu seyn,
hat er verlorn seyn strassen, kam nur nit weyt dabey.
Sie erkiesten eyn schönen brawnen, kurtz das haar.
Der Sohn. Der Mentsch. Der Arme.
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(S. 253).
(Im Buch stehen statt der Umlaute alte Lettern mit über den Grundvokal gestelltem „e“, die ich hier nicht zur Verfügung hatte).
Ich verzichte hier auf den Originaltext und gebe nur als Kostproben ein paar Splitter dazu. Möge eine gute Bibliothek in Ihrer Nähe sein.
Im Folgenden mit Angabe von Zeilen- und Wortzahl, 1, 1-4 bedeutet erste Zeile, Wörter 1 bis 4 der deutschen Fassung:
1, 1-4 Puora musa di bandít
1, 6-7 di nini
2,1 omp
3, 3-4 de la mari
6, 3-5 l’ombrena da l’ubidiensa disperada
7, 6 cuntadín
Ist der schöne brawne mentsch ein Sexualobjekt? Was auch immer, er ist armb, erstes und letztes Wort des Gedichts. Pasolini: „Ein Buch vom sozialen Aufstand (?) und ein Buch mit einer epischen Darstellung des Lebens auf dem Lande (was weiß ich, Ramuz, Babel*…).“
Christian Filips übersetzt auch die Autopresentazione dell’ autore (1975) mit einer „Selbstdarstellung des Übersetzers“ (2009). Darin sagt er etwas zur Sprache – und, noch eine Schicht des Palimpsests, zur Sache (mir fällt der Grund ein, warum ich das Buch gestern zur Hand nahm, die laufende Diskussion zur politischen Lyrik. Die Absenzen prägen die deutsche Szene, das ist mir klar).
Filips:
Und – die Zeichen mehren sich – vielleicht können sie es heute wieder sein. [nämlich Pasolinis Gedichte vor alls volck, mithin nicht nur für Zeit-Leser, welche aber selber davon nicht allzu viel vorgesetzt bekommen, was die Debatte prägt]. Mit der im Jahr 2008 zu Tage getretenen, bis heute andauernden Rezession hat eine Entwicklung begonnen, die Pasolinis letzten Prophetien neue Geltung verschafft. Es ist ja wirklich möglich, dass das Zeitalter eines am Gewinnstreben orientierten, auf Kommodifizierung und Wertschöpfung ausgerichteten Kapitalismus gerade an sein Ende kommt: Wo Firmen und Banken Schuldner der Staaten sind, da werden die internationalen Finanzströme mehr und mehr kontrolliert. Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ist längst nicht mehr nur ein Spleen von Randgruppen. (…).
Das war 2009. Wo stehen wir heute?
*) Liest man heute noch Isaak Babel? Oh Mann, eine Wucht!
Pier Paolo Pasolini: Dunckler Enthusiasmo. Friulanische Gedichte, übersetzt von Christian Filips. Basel / Weil am Rhein 2009