Diskussionsbeitrag von Christian Lux
Die Vorwürfe in Richtung „gewollte Originalität“ oder gar „Publikumsfeindlichkeit“ gehen meiner Ansicht nach vollkommen ins Leere. Der Grund für die erfolgreichen Festivals, den „Lyrik-Hype“ (was denn nun Krise oder Hype?) ist doch gerade, dass die jüngere Generation, also eben die Autoren von Lyrik von Jetzt I und II, Neubuch u.s.w. relativ deutlich auf das Publikum zugehen. Und nicht nur sie, sondern auch ihre Publikationsorgane und Verlage in Optik und Marketing. Die Festivals würden ja auch unbesucht bleiben, wenn die Erfahrung permanent frustrierend oder publikumsvergrätzend wäre. (Die mangelnden Buchverkäufe müssen also anders begründet werden und defacto haben ja auch „zugänglichere“ Lyriker keine besseren Verkaufszahlen).
Publikumsfeindlichkeit war doch eher eine Phase der 70er und 80er Jahre, in der Autoren teilweise aus politischen Gründen bewusst gegen ein Publikum schrieben. Auf keiner der Lesungen jüngerer Dichter, denen ich beigewohnt habe, wäre je ein „Hurz“-Moment spürbar gewesen. Natürlich gibt es das, aber sie sind insgesamt untypisch für die Lesefestivals. „Gezwungenes Experiment“ – das war doch eher Merkmal jener Lesungen in Stadtteilbibliotheken, die Dichter inszeniert haben, die ein paar Jahre älter sind als Jürgen Brôcan. Ich sehe da keinen der jüngeren Autoren wirklich getroffen.
In den USA, wo es einen viel heftigeren Streit zwischen „experimentellen“ und „konventionellen“ Lyrikströmungen gab und gibt, wurde vor zwei Jahren eine Anthologie veröffentlicht namens „American Hybrid“. Die Herausgeber hatten erkannt, dass die jüngeren Autoren sich um diese Grenzen nicht scherten, sie nutzen Elemente und Schreibweisen aus beiden Lagern. Sie schreiben ohne ideologische Scheuklappen und das konventionellste Gedicht kann so Experiment werden. Kurz: Die ganze Aufteilung in Lager ist aus der Sicht heute Schreibender grundeigentlich kappes und historisch. Das ist meiner Meinung nach als Beobachtung durchaus auf Deutschland übertragbar. Anders wäre der Erfolg der Lesebühnen und der „Hype“ (was immer das eigentlich genau heißen soll) gar nicht erklärbar. Der Riss zum Publikum ist dort, wo das Publikum den Autoren begegnet – nämlich auf den Festivals und Lesungen (leider nicht in den Buchhandlungen) längst geheilt.
Es sind die jammernden Krisenartikel und die vertanen Chancen, den Platz für die Besprechung von Lyrik zu nutzen, die das zarte Pflänzchen bedrohen, weil vorhandene Vorurteile und der ignorante Generalverdacht, dass man Lyrik nicht wahrnehmen muss, bestärkt werden. Man möchte jedem Rezensenten zurufen: Schert euch nicht um den Zustand der Lyrik! Ihr schreibt doch auch keine Artikel zur Lage der Prosa! Wenn euch ein Band oder ein Autor begeistert, dann schreibt das doch einfach. Die Leute verpassen was, wir alle wissen es. Lasst sie das spüren. Bei der Menge von Begeisterten, die sich in den Redaktionen zu erkennen geben, dürfte das mehr bringen als das ja auch falsche Fazit: die Lyrik ist in Gefahr. Da denkt man als Zeitungsleser, der auf dem Weg bis zum Feuilleton ganz andere Krisenmeldungen zu verarbeiten hatte, unwillkürlich allerhöchstens: na und wenn schon.