116. Der Betrieb ist schlecht! Aber warum denn?

Von Lnpoe

Diskussionsbeitrag von Bertram Reinecke

Eigentlich ist der Text von Brôcan nicht der Rede wert. Das hat man ja alles schon irgendwie gehört, teilweise bis zum Abwinken. Aber er ist geschickter und mischt Richtigeres mit dem ganz Falschen. Insofern dürfte er exemplarischer stehen für den Stand der Debatte als die ungelenken Rezensionen, die hier jüngst diskutiert wurden. Deswegen lohnt sich eine längere Antwort. Ich will hoffen, dass Brôcan selbst glaubt was er da schreibt. Man könnte ja auch denken, dass er zynisch sich selbst positionieren möchte. Da ließe sich dann jede Aufmerksamkeit und schon gar eine Debatte ummünzen in konkretes Fortkommen.

Um das mindeste zu sagen also ein zwiespältiger Text, der Fragen offen lässt. Pieken wir gleich hinein. Brôcan moniert, der Leser sei konfrontiert „mit der unglaublichen Fülle an Gedichten in Anthologien, im Netz oder auf Poesiefestivals, die es ihm ohne Sachkenntnis und entsprechendes Instrumentarium kaum mehr ermöglicht, Amateure von Profis oder gelungene von misslungenen Texten zu unterscheiden.“

Wann aber war denn der Zustand der Dichtung so, dass der deutschsprachige Leser ohne Sachkenntnis und entsprechendes Instrumentarium zwischen Amateuren und Profis unterscheiden konnte? Wie tat er das dann? Vermutlich durch Allgemeinbildung? Beklagt Brôcan den Zustand des Deutschunterrichts? Nein, er hält eine sprachliche Grundbildung für gegeben und unproblematisch. Gegeben wird sie durch Schule, früher Gottesdienst usw. Kann sie unproblematisch sein?

Warum soll der Leser überhaupt ohne Sachkenntnis und Instrumentarium gelungene von misslungenen Texten scheiden können? Das ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für den lustvollen Umgang mit Literatur. Schiller konnte nach gängiger Meinung selbst mit Sachkenntnis und Instrumentarium die Gelungenheit Hölderlins nicht einsehen. (Schillers Sachkenntnis mag überbietbar sein, wer weiß was Schiller über Dichtung wusste, den würde ich auch heute ernst nehmen.) Oder war es eher so, dass Hölderlins berühmte Kurzoden und all die Sachen, die wir dann doch lieber lesen als seine pathetischen früheren Texte, die (Antischillersche) spezifisch Hölderlinsche Umgangsweise mit Schillers bohrenden Anfragen war?

Ich vermute, dass Brôcan all diese problematischen Dinge für notwendig hält, weil seine Utopie des Lesers der „ernsthafte Leser“ ist. Der ernsthafte Leser liest mit Achtung seinen bedeutenden Gegenstand, eine Lesebeflissenheit, wie ich sie von mir als Schüler kenne, der durchaus freiwillig, wenn auch mit zusammengekniffenen Arschbacken, Thomas Mann Schwarten gelesen hat.1  Ernstes Lesen zum Abgewöhnen. Mein Bild des Lesens ist ein anderes. Wer Proust nicht liest wie Harry Potter, braucht Proust nicht zu lesen. Nicht jeder braucht das. Mut zur Lücke!2

Das ernsthafte Lesen hatte ich im Deutschunterricht kennengelernt: Seht her Kinder, ein bedeutender Gegenstand mit dem ihr Euch beschäftigen müsst, wenn ihr Erwachsene werden wollt. Jede abweichende Lektüre des Schülers, die nicht als falsch dargestellt werden konnte, galt zumindest als unkonzentriert, abseitig, unernst.

Dass es Brôcan um eine solche Fallhöhe, den glaubwürdigen Dichter geht, sieht man auch daran, dass ihm die Phantasie fehlt, vom Betrieb mehr zu fordern, als dass endlich mal wieder die großen Verlage … Eine Sehnsucht, die doch eher die soziale Rolle des Dichters betrifft, als die Art von Text, die der Markt nun befördert oder verhindert, was vordergründig ja das Thema des Essays zu sein scheint.3

Die Sehnsucht nach sozialer Besserstellung hin oder her: zurück zur Frage: Welche Gedichte sollten entstehen und was steht dem entgegen? Ich stimme Brôcan zu, dass der Kritiker als Vielleser hie und da, weil er nicht immer dasselbe lesen will, einen eingebauten Hang zu etwas außergewöhnlicheren, etwas spezielleren Texten entwickeln könnte. So haben wir den Betrieb eben aufgeteilt, bzw. eher: So finden wir ihn eben vor und man könnte das theoretisch kritisieren.4 Diesen Fokus entwickelt Brôcan leider nicht. Mich erschreckt eher was Brôcan beruhigen würde: Wie eingängiger, oftmals gehörter Text von einem Teil der Lyrikkritik gefeiert wird: Wenn das theoretische Argument richtig ist, lesen die dann wohl nicht genug?

Ja, es ist eben so, das finden wir so vor, dass es Spezialistentum gibt und dass der Trend zu immer größerer Auffächerung geht. Man kann das beklagen, aber darf man das in den Rechner tippen und im Netz veröffentlichen? (Vulgo: Wir profitieren auch alle von solchem Expertentum). Von einer Subkultur der Experten in Bezug auf Lyrik zu sprechen5, gestehe ich nur dem zu, der auch von einer Subkultur der Maschinenbauer, einer Subkultur der Politiker etc. spricht. Man kann das machen, wenn man den Kreis nicht so weit zieht, Brôcan tut es nicht, so legt sich der Verdacht nahe, dass lyrische Fachkenntnis in toto verunglimpft werden soll und das implizite Argument dafür die Tatsache ist, dass viele dieser Spezialisten marginalisierte Triebtäter sind. (Andere, Germanisten z.B. und manche Kritiker werden verhältnismäßig gut dotiert.)

Irgendwie scheint Brôcan an den Sänger für alle zu glauben, der mehr tut als „niedere oder höhere Unterhaltungskunst“ zu geben. Ich kenne dieses Dichterbild wieder nur aus dem Deutschunterricht: Der gute Dichter, wie schwer ers auch hatte, setzt sich dann doch durch und das Volk hört ihm zu: Wie sehr das nicht stimmt, habe ich erst später begriffen. In gewissem Sinne loben wir im Deutschunterricht sowieso die, die eben sich durchgesetzt haben. Und der Deutschlehrer erzählt uns die Durch-Nacht-zum-Licht-Geschichte bestenfalls um nicht selbst an seinem Gegenstand zu verzweifeln. Außerdem ist die Geschichte integrativ: Geh selbst durch die Nacht des Deutschunterrichtes und Du wirst dann schon sehen: Jeder hat die Chance zum Licht zu kommen. Manche glauben es und irrrlichtern dann mit Hölderlin auf der Fahne durch den Literaturbetrieb. Ich habe meinen Deutschlehrern nie geglaubt, dass sie auf der Seite von Hölderlin oder wem immer ständen. Dies Deutschlehrerversprechen schüttet Konflikte zu6:

Man muss aber zuerst wissen was man will und dann muss man sich eben aufdrängen: Du hast keine Chance? Nutze sie! Brôcan denkt, Gutes müsste sich irgendwie von ganz allein durchsetzen und wenn das offensichtlich nicht passiert, muss jemand schuld sein. Allenfalls ist er bereit, ein Missverhältnis zwischen Produktion und Nachfrage zu sehen. (Offensichtlich liegt es hier eher auf der Produktionsseite.) Wie Thomas Kunst in seinem Sonett bin ich der Meinung, dass Lyrik auch eine Zumutung sein kann und sollte. Diese Zumutung beginnt bei den Netzwerkern: Öfters habe ich bei Anthologieanfragen die Dinge eingesandt, die mir wirklich wichtig sind und zur Sicherheit ein Sächelchen, von dem ich dachte: Das könnte dem Herausgeber liegen. Manchmal bin ich durch die Offenheit der Herausgeber überrascht, manchmal geht es aus wie das Hornberger Schießen.7

Brôcan möchte irgendwie Harmonie: Die guten Dichter, (Deutschunterrichtskompatibel?), sollen endlich Gehör finden, während die schlechten die Bühne zu verlassen haben. Aber irgendwie sind leider die Böslinge des Betriebs davor. (Das ist sehr integrativ solange er keine Namen nennt. Man könnte auch sagen wohlfeil.) Nur steht dann die Bühne voller Sündenböcke: Die Dunkelmänner vom Slam: Ja ich kenne die. Die stehen dann nach Lesungen auf den wenigen Bühnen, wo junge Literatur in anderem (auch: Brôcans) Sinne gemacht wird, und sagen Sätze wie: „Literatur kann auch unterhaltsam sein“, werben für ihre Lesebühne und rümpfen die Nase und versuchen ihre Hausliteraten und Konzepte auch auf diese Bühne zu hieven. Man merkt dann das Imperialistische dieses eigentlich wahren Satzes, nämlich die implizierte Folgerung: „Literatur muss mich unterhalten können.“ Und zwar auch die, die im beschränkten, sagen wir ruhig z.B. geschützten Raum des Literaturinstitutes probeweise vorgetragen wird, muss durch eine ersetzt werden, an der der Slammer Freude hat. Man sollte auf solchen Satz folgendermaßen antworten: „Ja, das finde ich auch, dass Literatur unterhaltsam sein sollte, warum macht ihr auf Eurer Slambühne nur immer so langweiliges, selbstbezügliches Zeug, wo man ohne jeden Erkenntnisgewinn rausgeht?“

Gegen die Dunkelmänner vom Slam setzt Brôcan die Lichtgestalt Les Murray.8 Nun muss man sagen, dass der durch seine Personalityshow (ein alter begeisterter Mann) und durch exotische Themen, die er authentisch verkörpert, auf einem Slam wohl ganz gute Karten hätte. So schlecht ist Slam auch wieder nicht.

Und auch sonstige Sündenböcke sind schneller gefunden als ihre Täterschaft zu erweisen ist: „Die Lyrik heute gleicht jedoch nicht selten einem Laborversuch, dessen Ergebnisse dem Publikum in komplexen Formeln und Geheimcodes präsentiert werden.“ Da ist ihm zuzustimmen, je nachdem, wie oft man sie erwartet aber was meint der Nachsatz: „Unter diesen Voraussetzungen verwundert ihre Marginalisierung kaum.“ Festgesellt sei: Oft und meist gleicht die Gegenwartslyrik keinem Experimentierfeld: Ich habe im letzten Monat 18 Anthologien zur Gegenwartslyrik durchgesehen und zwölf davon in einem Essay beschrieben. Es lässt sich eine Grundspielform des Gegenwartsgedicht ausmachen. Diese hat genau beschreibbare Merkmale. In 3 von diesen 18 Anthologien ist es ungefähr so, dass die Gedichte, die von dieser Grundform mehr oder minder ins sogenannt experimentelle abweichen, vielleicht etwas überwiegen. In ca. 6 von diesen gibt es die von Brôcan geforderte Abweichung ins Traditionelle. Wohlgemerkt: Gezählt wurden die, die von der Grundform merklich abweichen. Nicht diejenigen, die sich nun gleich in komplexen Formen und Geheimcodes präsentieren. Diese könnte man dann doch ebenso gut vergleichsweise selten nennen, denn nicht jeder von diesen abweichenden Dichtern möchte unbedingt originell sein, manchem reicht es sicher wie dem alten Hölderlin, sagen zu können, was es eben zu sagen gibt. Wenn Dichtung den geschmähten Mittelweg braucht: Sie hat ihn ganz offensichtlich auch. Warum muss also Herr Brôcan konstatieren, dass die Leser weiterhin verunsichert sind von der Gegenwartslyrik? Herr Brôcan, wenn es Sie interessiert, können Sie das alles in der nächsten „Gegenstrophe“ nachlesen. Oder zeige ich, wenn ich solche Philologie bzw. strukturalistische Analyse treibe, „ein allzu lebhaftes theoretisches Interesse“ und bin damit per se unglaubwürdig? Anderswo habe ich diese Untersuchungen nicht gefunden. Wo ist die ebenfalls von Ihnen beklagte Expertensubkultur?

Das Experiment wird also nicht als Ursache dingfest gemacht werden können, sollte es die von Brôcan diagnostizierte Entfremdung der Gegenwartslyrik von ihrem Publikum geben. Wenn, dann gibt es sie, obwohl es ein klar umrissenes, also in seinen Verständigungsstrategien relativ leicht erlernbares Gegenwartsgedicht gibt und darüber hinaus eine Spur historischer Verfahren im neuen Gedicht. Die von Brôcan vorgeschlagene Kur „Zurück zum Leser“ hilft also nichts, es muss an etwas anderem gelegen haben. Herr Brôcan, woran liegt es dann? Vielleicht an einem Abwehrreflex „Versteht man doch eh alles nicht“? 9

Natürlich ist dies alles gewissermaßen ein Indizienprozess. Man ist darauf angewiesen, da Brôcan absichtlich verwaschen schreibt und sich weitgehend auf Allgemeinplätze verlässt: «Die Dichtung ist bedroht, wenn die Dichter der Sprache ein allzu lebhaftes theoretisches Interesse entgegenbringen und sie zum Thema ständigen Tüftelns machen.» zitiert er wohlwollend Dana Gioia, das Gegenteil ist sicher ebenso wahr. „Die Dichtung ist bedroht, wo der Dichter allzu unreflektiert seine Wörter einsetzt.“ Alles hängt an dem Wort „allzu“: eine Art kommunikativer Joker. Will man wissen, ob man beipflichten oder widersprechen soll, kann man allenfalls versuchen, das aus dem Kontext zu erschließen. (Herr Brôcan, sie hielten doch sehr darauf, dass der Leser sich ein Urteil bilden kann?10) Brôcans nächste Satz lautet: „Wo die Inhalte ausgehen, wird das Schreiben über das Schreiben und die Sprache selbst rasch zum einzig wahren Stil erklärt.“ Dass Dichter, die sich mit der bedrohten Sprache auseinandersetzen, damit sehr wohl Inhalte haben, zieht Brôcan nicht in Betracht. Wenn Eich gegen „die Einzementierung der Welt“ vorgeht oder Celan seine Gedichte von der Misere der deutschen Diskurse reinzuhalten versucht, haben wir Musterbilder bedrohter Sprache vor uns. Es ist sogar gefordert worden, dass der Dichter seine Sprache im Gefahrenbereich siedeln lassen soll, zumindest ist die Bedrohtheit des Sprechens also kein Argument gegen dieses Sprechen, wie es bei Brôcan aufklingt.

Aber in die Gegenwart geschaut: Ich kann, ehrlich gesagt, nicht angeben, wohin Brôcans Spitze zielt: Wenn es ums Schreiben über das Schreiben geht, dann wurden in letzter Zeit kritisch immer wieder Namen wie Allemann, Ames, Lange, Lentz, Rinck oder Stolterfoht genannt. Diese Leute jedoch, auch wenn teilweise zu ihrem Handwerkszeug eine profunde stilistische Kenntnis gehört, erklären sicher nicht irgendeine Art von Schreiben über die Sprache zum „einzig wahren Stil“. Es ist doch sehr auffällig, dass sie notorisch nicht von Stil, sondern von „Hintergehen der Sprache“, von Verfremdung und „anderem Sprechen“ reden. Ein Allemann- oder Cottenstil sind doch in gewissem Sinne ein Unding. Wenn der germanistische Interpret Linien in deren Werk ausmachen mag: Der und der macht das immer so und so, und dies dann einen sagen wir Stolterfohtstil, einen Lentzstil nennt, dann haben diese Dichter zu akzeptieren gelernt, dass man eben nicht die Kraft hat, alles gemeinsam zu hintergehen, alle Sprechgewohnheiten gleichzeitig zu hinterfragen. Dass sie einen Stil haben und das akzeptieren, lässt sich als eine Konzession an ihre menschliche Fehlbarkeit auffassen. Wen meint Herr Brôcan mit seiner Analyse also?

Ich fürchte, er meint doch die genannten Dichter, wenigstens wird der NZZ-Leser ohne Sachkenntnis ihn so verstehen: Herr Brôcan, ihr Essay ist so geschrieben, dass es viel Sachkenntnis und entsprechendes Instrumentarium erfordert, um die Entscheidung zu ermöglichen, ob es ein gelungener oder misslungener Text ist. Oder ist das für Sie nur bei Lyrik ein Problem?

Ein grundsätzlicheres Problem von Brôcans Text scheint hier auf: Brôcan spielt Inhalte gegen Formen aus. Dabei ist es nicht so, dass eine formale Beschäftigung mit der Sprache einem Inhalt irgend etwas wegnähme noch umgekehrt.11 Man sieh es ja an der Diskussion auf der Lyrikzeitung: Tom Bresemann und Thomas Kunst streiten über die Inhalte von Brôcans Essay und geraten auf Dichternamen und, so darf man unterstellen, deren Werke, also auf Formen lyrischen Sprechens. Ich versuche genau zu lesen, was Brôcan eigentlich sagen möchte, untersuche seinen Diskurs, seine Form und sofort komme ich auf massive inhaltliche Differenzen. Es ist also egal, solange man nicht aus Sonderinteressen sondert, wie es der Deutschunterricht tut, hat man immer beides, von welcher Seite man das Knäuel auch in die Hand nimmt.

Jürgen Brôcans Hauptforderung besteht darin, ein gesundes nichomachisches Mittelmaß zu wahren, Das ist mir schon bei Aristoteles verdächtig genug gewesen, weil, um das Problem der aristotelischen Schrift gleich an Brôcans Text festzumachen, immer nicht ganz klar wird, wie sich eine Tugend von einer Untugend unterscheidet: Ungestüm sein ist nach Brôcan schlecht, aber Mut gut.

Ebenso unklar ist folgendes: Wie lässt sich die Vielfalt, die er am Ende seines Artikels einfordert, genau von der am Anfang des Artikels noch als negativ betrachteten Breite der eingesetzten Verfahren und Experimente und der Vielzahl der unterschiedlichen (zumindest unterschiedlich guten, was auch immer das heißt) Stimmen sinnvoll abgrenzen?

Schauen wir uns aber seine Formulierung zum Mittelmaß ruhig einmal genauer an: „Dichtung braucht das Gleichgewicht, den geschmähten Mittelweg, und das setzt voraus, dass sie nicht unter Schutzatmosphäre entsteht, als Absonderung der Lyriktheorie“. Sicherlich, ich bin der erste, der Theoriebildung verteidigen würde, da sie einen weiter bringt. Ja, Theorie kann sogar extremistisch machen, der Zusammenhang zwischen den beiden Satzteilen ist dennoch nicht richtig. Der von Brôcan z.B. gefeierte Lars Reyer hat sich in der Schutzatmospähre der Seminare des deutschen Literaturinstituts seinen gedämpft gemäßigten Ton erschlossen, indem er sich die Härten und Atavismen seines Vorinstitutsstils nach und nach abfeilen ließ. (Ich war nämlich dabei.)12 Gegen Brôcans Sicht spricht also sein eigenes Beispiel. Wichtiger aber ist mir hier ein Satz von Keynes: „Wer glaubt, er brauche keine Theorie, hängt nicht etwa keiner an, sondern einer veralteten.“ Dafür, dass es alte Bilder aus dem Deutschunterricht sind, an denen sich Brôcan orientiert, habe ich Indizien gesammelt. Ich finde ein weiteres im Vorwort der Umkreisungen: „Vielleicht – nein sehr wahrscheinlich – ist die Welt seit Jahren komplizierter geworden … Darauf kann und soll das Gedicht reagieren, mit scharfen Schnitten und Montagen.“13 Genau so argumentierte der Modernediskurs etwa zur Zeit Döblins und in Abgrenzung zum konservativen Soz-Realismus war das Standard auch im Deutschunterricht der Bonner Republik. Heute dürfte sich doch herumgesprochen haben, dass man Schnitt- und Montageverfahren bis in die Antike zurückverfolgen kann und dass es damit heute im Gegensatz zu damals (als es noch eine eine aufklärerische List der Manifeste gewesen sein mag) eine weltfremde Argumentation ist, von den Verhältnissen der Welt auf die Adäquatheit bestimmter Verfahren zu schließen.14  Manchmal scheint also auch bei Herrn Brôcan seminaristisches unter der Käseglocke erworbenes Wissen in seine Ideen vom Gedicht einzugehen. Er sollte nicht mit Steinen werfen. Vorurteilsfrei betrachtet: Das Publikum von Literatur und nicht etwa nur von Lyrik hat oftmals ein Studium durchlaufen, oftmals ein geisteswissenschaftliches, es ist anders geworden. Immerhin bekommen damit die betonierten Leiterzählungen wihelminischer oder Gruppe-47er Provenienz Risse. Der Deutschunterricht kann seine Vorurteile weniger ungebrochen ausspielen. Das Publikum ist wenigstens ein klein wenig antikanonischer und heterogener geworden. Dem darf und kann die Lyrik Rechnung tragen, wie Hölderlin seinem Publikum Grundkenntnisse in lateinischer, gar griechischer Lyrik zumutete.

„Dazu fehlt derzeit vor allem eine vorurteilsfreie Diskussion und eine mediale Präsentation, die der Vielfalt der Stimmen Rechnung trüge.“ Auch diese Kritik bleibt jedem unbenommen. Auch wenn sich vieles in den letzten Jahren gebessert hat, bleibt ein noch besserer Zustand des Lyrikmarktes immer dringlich wünschbar. Wenn aber fortgesetzt wird: „Denn solange die grösseren Verlage und literarischen Jurys das Wagnis scheuen, die ausgefahrenen Wegspuren zu verlassen, ändert sich nichts an der allseits beklagten Diskrepanz zwischen den Zeichen des Booms und der Empirie der schlechten Verkaufszahlen“, wird einem doch schummrig, wenn diese angemessene Repräsentation sich einzig an Verkaufszahlen und Literaturpreisen widerspiegeln soll. Brôcan wünscht sich die Fallhöhe des Großdichters, den man mit Ehrerbietung liest. Dann soll er sich doch nicht wundern; Ann Cotten lesen Mensch! (Jetzt, wo Seilers Preisregen ein wenig schwächelt.) Denn in jeder anderen Hinsicht stellt die steigende Vielzahl der kleinen Verlage insgesamt sicher eine Verbesserung in Hinblick auf eine angemessene Repräsentation der Lyrik dar, nur ihre Verkaufsabteilungen sind vielleicht etwas schwach auf der Brust.15

Ich halte aber neben der Frage „Was tun die anderen Böses?“ auch immer wieder ein Innehalten für nötig: inwiefern bin ich, der anfangs vom Betrieb so sehr verletzt wurde, mit zunehmendem Erfolg nicht jetzt selbst Bestandteil dieses Betriebs? Wir hatten z.B. gesehen, dass Brôcan für andere Maßstäbe aufrichtet (wie den dass der Laie unterscheiden können muss, ob ein Text gut ist), die er selber allenfalls bedingt an seinen Text anlegt.

Ich hatte ferner beim ersten Lesen Angst: ich nenne ja auch einige Namen des öfteren. Werde ich angegriffen als Bestandteil des Leipziger Zitierkartells: Beruhigt kann ich aufatmen. Wenn ich Namen wie Kuhlbrodt, Reyer, Rugerup oder Rimbaudverlag öfters ehrend im Munde führe, dann lobe ich augenscheinlich die Richtigen, während die anderen ihre Kartelle schmieden. Kartell sind immer die anderen. Alles Stasi außer Mutti.

Hölderlin wollte nicht originell sein, er konnte bloß nicht anders. Brôcan fordert den Dichtern, ob sie wollen, können oder nicht, ein mittelmäßiges Sprechen ab. Hätte da ein Hölderlin eine Chance?

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1 Zwar langweilig, ist aber Bildung. Inzwischen habe ich genug Thomas-Mann-Lesern gelauscht und gesehen, dass die Bildungsbürgerwitze, die ich damals schon oft als etwas schal empfand, genau das waren, was die anderen so schätzten. Es lag also nicht daran, dass ich irgendwas nicht verstanden hatte.

2 Ich lese Proust und ich muss hier etwas an mich halten und ernst(haft) bleiben, auch wenn es dann etwas humorlos aussieht und eventuell über Gebühr scharf wird, Brôcan ist sicher ein spannender Dichter, schließlich haben wir gemeinsame Freunde.

3 Bestenfalls ist es, Tom Bresemann wies darauf hin, ein Hoffen auf den weißen Ritter.

4Wenn man der Literaturkritik nicht abverlangt, dass sie ihren Kenntnisvorsprung fruchtbar macht, um erklärend abkürzende Wege zu interessanten Texten zu bahnen.

5 Kritisiert Brôcan die Ratlosigkeit der Lyrikspezialisten, welcher?, wenn er schreibt: „Es wäre zu überlegen, ob dieses Rezeptionsverhalten, wie behauptet wurde, allein aus der Mentalität des Lesers zu erklären ist, oder ob es nicht auch zu einem beträchtlichen Teil als Reaktion auf eine zunehmende Ratlosigkeit zu verstehen ist.“ Tritt der Leser mit sich selber in Dialog und reagiert auf seine eigene Ratlosigkeit? Oder scheint hier Brôcans eigene Ratlosigkeit durch?

6 Wie das Schimpfen über den Markt. Man beklagt ja höchst verschiedene Dinge daran.

7 In Brôcan/Kuhlbrodts „Umkreisungen“ war ich immerhin drin: Danke!

8 Er nennt weitere Namen, ich sage Mayröcker, Stolterfoht und setze mit ihm fort „Anders als manche [andere] deutschsprachige Lyrik machen sie den Leser neugierig und stossen ihn in neue Sichtweisen, aber sie überfordern ihn nicht, weil sie formale Fragen und formale Originalität nicht vor die inhaltliche setzen.“ (Ich habe es jedenfalls so erlebt und nachrecherchiert.)

9 Meine Deutschlehrerin zu Jandl „Auf dem Lande“ sinngemäß: „So was Komisches ist dann die Gegenwartsdichtung, ihr könnt euch das mal allein anschauen.“ Ich weiß nicht, ob ich ihr nicht bis heute dankbar sein sollte, wäre sie fit genug gewesen, uns sagen wir, Grünbein nahezubringen, müsste ich ja bis heute denken, ich kennte mich aus!

10 Wenn ich hier umstandslos seinem Essay das abfordere, was er Gedichten abfordert, dann deswegen, weil sich Jürgen Brôcan in seinem Vorwort zu „Umkreisungen“ für eine Gleichsetzung von Essay und Gedicht stark macht.

11 Jedenfalls nicht, solange man nicht meint, der Inhalt wäre im Gedicht enthalten, wie Wasser in einem Krug und könnte verlustfrei hinausgegossen werden. Diese Vorstellung, die Jürgen Brôcan untergründig zu teilen scheint, dürfte aus dem Kontrollverfahren des Deutschunterrichts erwachsen sein: Irgend etwas muss der Deutschlehrer ja abfragen können. Nur wundert man sich dann immer, warum selbst die großen Dichter und auch die Alten das alles immer so versteckt haben. Man lese Lohenstein, man lese Wilhelm Müller, ja, man lese Goethe. „Die wandernde Glocke“ oder es reicht schon „Sah ein Knab ein Röslein steht“, nur hat da mancher noch reflexartig auf‘m Kasten, was ein altmodischer Deutschlehrer da so wissen wollte.

Und diese verwaschene Lesart ist schon vom Prinzip des Wohlwollens diktiert: Genau genommen fordert er Mut von den Kritikern, Verlegern usw., während er über Ungestüm bei Autoren etwas die Nase rümpft. Man warte auf seine Entdeckung!

12 Freilich nicht ohne sich auch sehr schicke ironische Verfahrenszüge anzueignen. Andere freilich haben sich dort radikalisiert.

13 Eng zusammen mit dieser Äußerung scheint mir folgender Satz Brôcans zu stehen: „Die allenthalben frohlockend gerühmte Vernetzung der Lyriker untereinander ist für sich genommen weder Qualitätskriterium noch Qualitätsgarant.“ Zunächst ja ein Satz von trivialer Wahrheit und strotzender Harmlosigkeit. Da Brôcan aber nicht Plattitüden dreschen will, sondern seine Thesen nur mit besonderer Vorsicht vorbringt, wird man hier ebenso wie in den anderen Fällen seine rhetorische Funktion untersuchen müssen und legt man ihn neben die oben zitierte Aussage, dann sieht man, dass es sich um einen Trojaner mit versteckter Implikation handelt, wie die Aussage des Slammers, Literatur könne auch unterhaltsam sein. Er scheint eigentlich zu implizieren: Netzwerken macht weder klüger noch besser. Beides ist falsch: Reyer, siehe oben, mich macht es klüger: Danke liebes Netzwerk für den vollständigen Brôcanartikel. Oder nehmen wir den Netzwerker Hölderlin: Ja wer auf der Studierstube mit einem Hegel und einem Schelling sitzt, kann aufs Internet allemal verzichten. Sicher wird Hölderlin nicht unreflektierter geworden sein durch diese Diskussionspartner!

14 Nur dieser veraltete Diskurs gibt auf solche Methodenfragen pauschale Antworten, wie Brôcan sie anfragt: „Aber steckt die Poesie nicht, so wie ihre Urheber, in historischen, kulturellen, sozialen Kontexten, herausgefordert von virulenten Themen, sogar noch dort, wo sie sich den Moden verweigert? Ist, was nicht experimentell auftritt, automatisch «konventionell» und somit altmodisch, überholt und darum eine ungenügende Verständnis- und Erkenntnismethode?“

15 Außerdem sagt jeder größere Verleger zumindest teilweise zu Recht: Wenn sich Lyrik verkaufte, würden wir sie verkaufen. Was verspricht sich Brôcan für eine Verbesserung in der Leserwahrnehmung, wenn der reisende Vertreter dem Buchhändler neben dem Kochbuch auch noch einen Brôcan aufschwatzt, den der Buchhändler dann, um ihn wieder los zu sein, der Oma für ihre Enkelin empfiehlt?