An neuen Texten sind seither für die vorhellenistische Zeit nur poetische Bruchstücke von Archilochos, Sappho und Simonides hinzugekommen. Doch die griechische Literatur gerade der ersten vier Jahrhunderte steht heute in weiten Teilen völlig anders da als vor sechzig Jahren. Die homerischen Epen werden interdisziplinär untersucht, bei den Lyrikern interessieren Kommunikationsbedingungen und Performanzen, man hat gelernt, die Tragödie als Teil der politischen Kultur Athens zu verstehen, Mündlichkeit und Schriftlichkeit gelten nicht mehr als scharf voneinander abgegrenzte Phasen, die Rezeptionsgeschichte ist neben die traditionelle Textgeschichte getreten. …
Zu den hermeneutischen Chancen eines solchen Handbuchs gehört es, konträre Positionen scharf zu konturieren, ohne die agonistische Situation der ursprünglichen Debatte reproduzieren zu müssen. Wie das geht, zeigt die Einleitung zum Abschnitt über die Lyrik: Die neuere pragmatische Interpretation, in der die Dichtungen in soziale und religiöse Handlungsakte eingebettet erscheinen, hat sich weitgehend durchgesetzt, ohne dass damit die von Wilamowitz betriebene biographische Interpretation oder die zumal in Deutschland durch Forscher wie Hermann Fränkel und Bruno Snell einflussreiche geistesgeschichtliche Auffassung „widerlegt“ wären – beide haben wichtige Ergebnisse erbracht, erstere durch eine umfassende Erschließung und kritische Durchleuchtung des Überlieferungsbestands, letztere durch das Aufzeigen der großen Ideenlinien und gemeinsamen Anliegen der Dichter. Gegen modische Trends wagt der Bearbeiter eine vorsichtige Generalisierung: Insgesamt lasse sich die Tendenz zu einer grundsätzlichen Identität zwischen dem realen und dem poetischen Ich feststellen – um sogleich einzuräumen, dass dies speziell bei Pindar sehr umstritten sei. / Uwe Walter, FAZ
Bernhard Zimmermann (Hrsg.): „Handbuch der griechischen Literatur der Antike“. Erster Band: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit. Verlag C.H. Beck, München 2011. XXVIII, 816 S., geb., 138,- Euro.