Kaum zufällig beginnt der Band mit einem Kapitel, das einen treffenden Titel trägt und so etwas wie eine Mini-Autobiografie, mithin auch eine Mini-Poetik Scherstjanois präsentiert: «Liebes Deutschland, ich lebe seit 30 Jahren in dir, mit dir. […] Ich hätte früher nie daran gedacht, dass ich in deiner Sprache schreiben werde. In deiner Sprache mich scheiden lassen werde oder neu verlieben.» Dennoch bleiben hier die Leidenschaften, die Prägungen (vor allem die künstlerischen) seiner alten Heimat stets transparent; einzelne Kapitel sind denn auch wiederum Majakowski, aber auch etwa Daniil Charms, Kandinsky, Marinetti, Chlebnikov, Kurt Schwitters und Carlfriedrich Claus in unterschiedlichen Variationen gewidmet. Und: die sie umgebenden und von ihnen geprägten avantgardistischen Strömungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden dabei spielerisch und mit stilistischem Feingefühl ebenfalls porträtiert. Daher fehlt auch nicht ein Kapitel zu Programm bzw. Programmatik bzw. zur Theorie der Lautpoesie. Darin zeigt sich Scherstjanoi erneut als großer Kenner «seiner» – insbesondere futuristischen – Tradition und zudem als versierter Aphoristiker wie gleichsam als «Manifestationist»: «[…] Poesie aus puren Lauten oder Sprachlauten, Mundartistik, / mein Niemandsland, / ohne Staaten und Grenzen, / zwischen zwei Sprachen und Kulturen, / zwischen Russland und Deutschland.» / Oliver Ruf, Neue Zeitschrift für Musik 06/2011, Seite 92
Valeri Scherstjanoi
Mein Futurismus
Mit einem Nachwort von Michael Lentz
Verlag/Label: Matthes & Seitz, Berlin 2011