# 111 - Ein Gepeinigter setzt sich zur Wehr

Ein Kinderleben vor 100 Jahren im Deutschen Reich 

# 111 - Ein Gepeinigter setzt sich zur WehrKarl Reitz wird im März 1920 als achtes Kind von Eduard, einem verbeamteten Bahnheizer, und seiner Frau Mathilde im hinterpommerschen Jadrow geboren. Er ist seine ganze Kindheit und Jugend hindurch deutlich kleiner als alle anderen Gleichaltrigen, was seine Mutter insgeheim auf ihre Affäre mit dem Dorfkrämer zurückführt: Auch der ist sehr viel kleiner als die anderen Männer im Dorf. Doch dass Karl ein Kuckuckskind sein könnte, soll nicht zu ihrem oder Karls größten Problem werden. 
Edelhard Callies schildert in seinem Roman Es brennt das ganze Kind sogar, wie man im Nationalsozialismus mit Behinderten umging und dass es oft schon reicht, nicht ganz der Norm zu entsprechen, um von seinen Mitmenschen aussortiert zu werden.

Kinder sind grausam? Nicht nur sie

Seine Körpergröße verfolgt Karl wie ein Fluch: Der Dorflehrer macht von Anfang an Witze über ihn, und bei den Nachbarn reicht das Repertoire der "Nettigkeiten" von Schrumpfgermane bis zu Wurzelzwerg. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wird über die Körpergröße des Jungen gefrotzelt. Karl leidet sehr darunter, aber er hat zu Hause keine große Unterstützung: Sein Vater ist ein zur Gewalt neigender und aufbrausender Despot, der keinen Widerspruch und schon gar keine Abweichung von den von ihm aufgestellten Regeln duldet. Seiner Frau und seinen Kindern räumt er keinerlei Mitspracherechte ein; 1937 beschließt er beispielsweise, dass Karl eine Lehre als Schriftsetzer machen muss und die Familie ihr Haus verkauft und in die Stadt zieht. Seine Mutter ist eine charakterlich zu schwache Person, um ihren Jüngsten gegen den Vater und die hänselnden Dorfbewohner in Schutz zu nehmen. Nur seine zwei Jahre ältere Schwester Marlene, die von allen Lenchen gerufen wird, ist ihm ans Herz gewachsen: Sie ist immer fröhlich und freundlich, aber wegen eines Herzfehlers körperlich nicht sehr leistungsfähig  - wie viele Menschen mit einem Down-Syndrom. Die Großeltern, die ebenfalls in Jadrow wohnen, sind für den Jungen eine Zuflucht. Zu ihnen kann er sich retten, wenn er es zu Hause gar nicht mehr aushält.
Als Karl zehn Jahre alt ist, zieht eine neue Familie aus Bayern ins Dorf und deren Sohn Hans wird zu Karls bestem und einzigem Freund. Mit Hans ist endlich jemand da, der sich auch dann vor Karl stellt und sich für ihn einsetzt, wenn es mal brenzlig wird und die anderen Jungen Karl mal wieder aufs Korn genommen haben. Doch diese Freundschaft findet ein jähes Ende, als Hans im Dorfweiher ertrinkt. Karl hatte noch versucht, ihn zu retten, aber es nicht geschafft. 
Karl hat schon lange davor beschlossen, die ständigen Demütigungen nicht mehr auf sich beruhen zu lassen und beginnt, sich für jede einzelne zu rächen. Dabei gehen Gebäude in Flammen auf, die Besucher des Dorffests erleiden Brechdurchfall und ja: Tote gibt es auch.

Aus den Augen, aus dem Sinn?

Das Jahr 1934 bringt für die Familie Reitz eine Zäsur mit sich: Schon vor einiger Zeit hatte der Dorflehrer, ein strammer Nationalsozilalist und HJ-Untergruppenführer, den Eltern  zu verstehen gegeben, dass Lenchen wegen ihrer geistigen Einschränkung zu Hause nicht mehr gut aufgehoben sei und deshalb lieber in einem Behindertenheim untergebracht werden sollte. Die mit der Situation überforderten Eltern stimmen dem Lehrer, der in der damaligen Zeit zum Kreis der Respektspersonen gehörte, zu. Die Mutter begleitet ihre Tochter auf dem Weg in ihr künftiges Zuhause und beruhigt ihren jüngsten Sohn, der sich schon bei Lenchens Abreise Sorgen um sie macht. Karl soll recht behalten: Fünf Jahre später erhält die Mutter einen Brief des Behindertenheims, in dem ihr mitgeteilt wird, dass ihre Tochter verstorben ist. Die angebliche Todesursache: ein perforierter Blinddarm. Karl erkennt die Lüge sofort: Seine Schwester hatte schon keinen Blinddarm mehr, als sie in die Anstalt gebracht worden war. Für den jungen Mann ist klar, dass Lenchen ermordet wurde. Beweisen lässt sich das allerdings nicht mehr: Ihre Leiche wurde bereits verbrannt, die Familie kann ihre Asche jedoch bekommen, wenn sie vorher eine Gebühr für den Versand entrichtet. Für Karl ist es völlig klar: Der Tod der Lieblingsschwester darf nicht ungesühnt bleiben.

Tragik und Verzweiflung gehen Hand in Hand

Edelhard Callies zeichnet in seinem Buch das Porträt eines in jeder Hinsicht im Leben zu kurz Gekommenen: Seine Körpergröße macht Karl Reitz in jeder Phase seines Lebens einen Strich durch die Rechnung. In ihm brennt die Flamme des Hasses, die mit jeder Erniedrigung immer größer wird.
Es brennt das ganze Kind sogar ist wegen seiner Nähe zu historischen Fakten lesenswert: Behinderte galten im Dritten Reich als unwertes Leben. Viele von ihnen wurden in Heimen, die sich als Heil- und Pflegeanstalten bezeichneten, weggesperrt und dort getötet. In zahlreichen Fällen gingen ihrem Tod medizinische Experimente voraus. Tausende Behinderte wurden so zugunsten der "Volksgesundheit" eliminiert. Der Autor greift auch eine Rechenaufgabe auf, die es an deutschen Schulen tatsächlich gegeben hat: Sie soll schon Kindern vor Augen führen, wie teuer es das deutsche Volk kommt, "Geistekranke" durchzufüttern.
Mit der "Aktion T4" leiteten die Nationalsozilisten in Deutschland ihr Vernichtungswerk ein: 1939 begonnen, forderte die Aktion innerhalb eines Jahres etwa 70.000 Tote - allesamt Kranke und Behinderte. Wie im Buch beschrieben wurden die Leichen rasch verbrannt, um Nachforschungen der Angehörigen zu verhindern.
Es brennt das ganze Kind sogar ist ein Buch, das den Leser in seinen Bann zieht, auch wenn einzelne Szenen etwas besser hätten ausformuliert werden können.  
Der Roman ist 2017 bei epubli als Taschenbuch erschienen und kostet 10,99 Euro. Er wurde mir als Rezensionsexemplar von indie publishing zur Verfügung gestellt.

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