[…] Unter dieser Voraussetzung kann demnach verständlich(er) werden, welches Ausmaß an Überschreitung (und damit an Verletzung) für die Dichtung Celans konstitutiv ist. Es ist – das kann vorwegnehmend gesagt werden – so gewaltig, dass mit ihm eine Veränderung des Welt-Verhältnisses vorliegt. Ein Welt-Verhältnis, das durch äußerste Bereiche – verwendet man diesen Hilfsbegriff – erfahrbarer Asymmetrie gekennzeichnet ist. Wenn dies auch der Blick von einer gewissen Norm aus ist, die selbst in Frage steht. Letztlich geht es um das Verhältnis zwischen zwei Werte-Kategorien, das als „symmetrisch / asymmetrisch“, „homogen / heterogen“ oder noch anders bezeichnet werden kann: um diejenige vom Wunden-Träger und diejenige vom Vertreter der jeweiligen Norm. Aus Sicht des Letzteren mag lediglich eine „Störung“ vorliegen. Doch würde damit auch alles verkannt, was mit dieser anderen (mehr als komplementären) Existenz- und Seh-Weise möglich wird. So gehört zu den Grund-Unterschieden, um ein Beispiel zu nennen, dass im Werk Celans die Wunde gezeigt wird, während der Normbereich jedweden gesellschaftlichen Daseins auf Verdeckung aus ist. Das Verhältnis der beiden Kategorien – es zu sehen und anzuerkennen –, die wie ein Begriffspaar einander bedingen (und das jeweilig andere hervorbringen), ermöglicht ein Gespräch, aus dem Einsichten gewonnen werden können, die bei einem Blick auf die feststehende Geschichte vermisst werden.
Die Sprache des Wundenträgers, um einen zweiten Grund-Unterschied zu nennen, ist somit eine andere und nicht, wie Levi und auch Agamben in Bezug auf Celan meinen, „keine“. Ihr liegt eine Gewalt und eine Schwächung zugrunde, aus der sich eine andere Art von Sensibilität als Voraussetzung – also eine andere Voraussetzung – ergibt. Eine Sensibilität, die sich nicht nur der Veranlagung verdankt, die über die üblichen Lernprozesse weit hinausgeht und auf überraschende Weise wahr spricht.
Aus: Ralf Willms: Das Motiv der Wunde im lyrischen Werk von Paul Celan. Historisch-systematische Untersuchungen zur Poetik des Opfers, AVM Verlag 2011, 975 S., 2 Bände, € 99,50
Der Klappentext:
Die Studie enthält einen historischen Teil, der das Motiv und Phänomen der Wunde aus über 4000 Jahren Menschheits- und Literatur-Geschichte punktuell erforscht, sowie einen theoretischen Teil, der – bei aller Vorsicht gegenüber Theorien – als höchst geeignet erscheint, das Werk Celans nochmals neu zu verstehen. So handelt es sich mit den umsichtigen Gedicht-Interpretationen, die auf dieser Grundlage vorgenommen werden, um ausgewählte Beispiele eines erweiterten Verständnisses, in Kernpunkten um eine Neuinterpretation des lyrischen Werkes von Paul Celan auf der Basis bisher vorhandener Forschung.