11. Unverständlichkeit

Diesem Widerspruch antwortet von eh und je der Vorwurf, das moderne Gedicht sei „unverständlich“. An ihm ist bemerkenswert, daß er nicht spezifisch, im Hinblick auf den einen oder anderen Text, sondern stets pauschal erhoben wird. Das legt den Verdacht nahe, daß er nicht in wirklichen Leseerfahrungen, sondern im Ressentiment gründet. Wäre es anders, so müßte es sich herumgesprochen haben, daß Verständlichkeit oder Unverständlichkeit etwas ganz anderes bedeuten, je nachdem, ob von einem Gedicht von Brecht, von Apollinaire oder von Pound die Rede ist. Jeder dieser Autoren stellt seine Leser vor andere Schwierigkeiten. Der Vorwurf, sie seien allesamt unverständlich, meint etwas ganz anderes. Er spricht aus und kaschiert zugleich die Tatsache, daß Poesie, wie Kultur überhaupt, in der bisherigen Geschichte immer nur Sache der wenigen, der happy few, gewesen ist. Darin drückt sich aus, worauf unsere Gesellschaft beruht. Der Vorwurf, sie seien unverständlich, macht die Poeten zu Sündenböcken für die Entfremdung, so als läge es nur an ihnen, sie über Nacht zu beheben. Zwar verfügen wir heute über die technischen Mittel, Kultur allgemein zugänglich zu machen. Die Industrie, die sie handhabt, reproduziert jedoch die gesellschaftlichen Widersprüche, die das verhindern; ja sie verschärft sie, indem sie der materiellen Ausbeutung die geistige verbindet.

/ Aus: Hans Magnus Enzensberger, Vorwort [in späteren Ausgaben Nachwort] der Anthologie “Museum der modernen Poesie“, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1960. (Ausschnitt in der Ausgabe von 1980 und öfter (Suhrkamp Taschenbuch) in Band 2, S. 777)

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