107. Wunderbares Jahr

1967 war ein wunderbares Jahr. Ich war jung und verliebt. Ich hatte die Musik. Die wanderte durchs Jahr, ich hörte sie im Radio, meist mit polnischen Ansagen vom Sender Freies Europa, der 5 Minuten Nachrichten brachte, die durch ein Störsignal überdeckt wurden, ich konnte noch kein Polnisch, es war egal, aber dann: 55 Minuten Musik. Die neuste Popmusik. Man mußte genau hinhören, um in den polnischen Ansagen die Titel der Gruppen und Songs zu verstehen. So lernte ich meinen ersten polnischen Satz, A ja ją mam rad, And I love her, ein paar Jahre früher. Das Radio verbrauchte mehr Zeit als die Schularbeiten (man muß bedenken, es gab, wo ich lebte, keine Schallplatten, keine Musikzeitschriften, keine Feuilletonberichte zu dieser Musik, nirgends). Ein aufregendes Jahr, nicht in San Francisco, sondern in meiner Küche. Gleich Anfang Januar The Doors: Come on baby light my fire. Die Beatles brachten Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band und Magical Mystery Tour, und es gab Pink Floyd und The Rolling Stones und The Who und Procol Harum und Jimi Hendrix und so viel mehr. Nie wieder würde es so sein, für mich. Flower Power hielt ich schon für Verfall. Es fuhren Panzer, aber noch nicht in Europa. Und es gab die Lyrik. Die war etwa ein Jahr früher über mich gekommen, ich las Goethe, Heine, Brecht, dann war ich reif für Neueres. Je unverständlicher für meine Lehrer, um so besser. Ich las also Bobrowski, Greßmann, Braun und Kirsch. Ein Taschenbuch für weniger als 2 Mark hieß Saison für Lyrik und brachte Weiterungen. (Auch hieß es bald, das Buch sei verboten). Und ich hörte von einer neuen Lyrikheftreihe, die einmal im Monat an Zeitungskiosken für 90 Pfennig Ost zu haben war. Ich habe alle Hefte des „Poesiealbum“ (gegründet vom Dichter Bernd Jentzsch, von dem ich aus der „Saison“ das Gedicht „In stärkerem Maße“ im Ohr hatte) von Anfang an. Im Herbst 1967 erschienen als Auftakt drei Hefte: Brecht Majakowski Heine. Von dort konnte man aufbrechen. Das nächste Jahr würde spannender werden.Und es gab eine zweite neue Lyrikreihe, auch die besorgte ich mir für wenig Geld in der Kreisstadt. Die Weiße Lyrikreihe des Verlages Volk und Welt begann mit zwei Heften zweisprachig: Anna Achmatowa und Salvatore Quasimodo. Dann bald der Ungar Miklós Radnóti. Diese Texte waren mein Gras, mein LSD, meine Einstiegsdroge zur Weltlyrik. Hier las ich ein paar Jahre später einen Band des spanischen Dichters Miguel Hernández. Das war 1972 und soweit ich sehe, bisher das letzte Buch dieses Autors auf Deutsch. Dessen 100. Geburtstag wir heute ab 18 Uhr im Falladahaus und später im Pariser, im IKUWO, im Antiquariat Rose und in der Alten Bäckerei feiern: in Greifswald heute bis Sonnabend.

Programm hier:

Fest für spanischen Dichter

Mehr Miguel Hernández

 



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