Auszüge aus einem Aufsatz von Jürgen Brôcan in der NZZ vom 22.7. (L&Poe #87. Zu Viel Originalität):
Der deutschsprachige Leser wird gegenwärtig mit zwei Phänomenen konfrontiert: Einerseits mit der unglaublichen Fülle an Gedichten in Anthologien, im Netz oder auf Poesiefestivals, die es ihm ohne Sachkenntnis und entsprechendes Instrumentarium kaum mehr ermöglicht, Amateure von Profis oder gelungene von misslungenen Texten zu unterscheiden; und mit der oft einseitigen Präferenz der Kritiker für das bemüht Artifizielle andererseits, die letztlich die Freiheit des Gedichts beschneidet und einer nachhaltigen Verbreitung abträglich ist, weil sie «eine Subkultur von Spezialisten» (Gioia) voraussetzt und schafft.
(…)
Es wäre zu überlegen, ob dieses Rezeptionsverhalten, wie behauptet wurde, allein aus der Mentalität des Lesers zu erklären ist, oder ob es nicht auch zu einem beträchtlichen Teil als Reaktion auf eine zunehmende Ratlosigkeit zu verstehen ist. Die Poesie des 20. Jahrhunderts hat mit ungestillter Neugier viele stilistische Möglichkeiten und Wahrnehmungsweisen erschlossen. Sie ist und war das literarische Experimentierfeld. Aber steckt die Poesie nicht, so wie ihre Urheber, in historischen, kulturellen, sozialen Kontexten, herausgefordert von virulenten Themen, sogar noch dort, wo sie sich den Moden verweigert? Ist, was nicht experimentell auftritt, automatisch «konventionell» und somit altmodisch, überholt und darum eine ungenügende Verständnis- und Erkenntnismethode? Die Lyrik heute gleicht jedoch nicht selten einem Laborversuch, dessen Ergebnisse dem Publikum in komplexen Formeln und Geheimcodes präsentiert werden. Unter diesen Voraussetzungen verwundert ihre Marginalisierung kaum.
Die Erfolge von Autoren wie Michael Hamburger, Ranjit Hoskoté oder Les Murray beweisen, dass eine grundsätzliche Lesebereitschaft besteht. Anders als manche deutschsprachige Lyrik machen sie den Leser neugierig und stossen ihn in neue Sichtweisen, aber sie überfordern ihn nicht, weil sie formale Fragen und formale Originalität nicht vor die inhaltliche setzen. Mit Hölderlin möchte man ausrufen: «Ich wünschte um alles nicht, dass es originell wäre. Originalität ist uns ja Neuheit; und mir ist nichts lieber, als was so alt ist, wie die Welt.» Damit soll keinem literarischen Konservatismus das Wort geredet werden; nur darf die sprachliche Sondierung nicht zu Ungunsten der inhaltlichen stattfinden, in den Worten E. M. Ciorans: «Die Dichtung ist bedroht, wenn die Dichter der Sprache ein allzu lebhaftes theoretisches Interesse entgegenbringen und sie zum Thema ständigen Tüftelns machen.» Wo die Inhalte ausgehen, wird das Schreiben über das Schreiben und die Sprache selbst rasch zum einzig wahren Stil erklärt.
(…)
Ein wichtiges Symptom der zeitgenössischen Lyrik war für Dana Gioia, dass die Dichter sich zurückgezogen hätten; sie suchten keinen Kontakt zum Publikum und würden sich gegenseitig beweihräuchern, zudem würden sie ihre Gedichtbücher in vielen Fällen für ihre Reputation und nicht aus künstlerischer Notwendigkeit schreiben (Ähnliches attestierte Gioia auch der Literaturkritik). Natürlich ist die Formel «Zugänglichkeit = hohe Umsatzzahlen» allzu simpel, dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Vernetzung der Dichter und die punktuelle Wahrnehmung weniger literarischer Zentren wie Berlin oder Leipzig zu sich selbst bestätigenden Zirkeln führt, die nicht weltvermittelnd zur Leserschaft, sondern nur noch zu den peers sprechen.
Kritiker und auch Literaturwissenschafter neigen dazu, in den Kategorien «richtungsweisend» und «tonangebend» zu denken, damit bieten sie jedoch dem Leser keine Alternativen und berauben die Dichtung des Nebeneinanders verschiedener Stile. Warum — so liesse sich fragen — tauchen niemals die Namen von Klaus Anders, der in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition zu profunden Versen kommt, oder Christian Saalberg und Lothar Klünner auf, die in kreativer Weise mit dem Erbe des Surrealismus spielen? Warum ist es so still um Christine Langer, Jan Kuhlbrodt, Lars Reyer, Ludwig Steinherr oder Ulrich Koch? Was ist mit den Bemühungen von Häusern wie dem alteingesessenen Rimbaud-Verlag oder der anspruchsvollen Edition Rugerup? Oder den kleinen Literaturzeitschriften, die in aller Stille arbeiten und fast nie in den Fokus medialen Interesses rücken?
(…)
Poesie hat Erfolg, wenn — in Dana Gioias Worten — bei Lesungen mehr die Dichtung als das Ego des Dichters gefeiert werde; und wenn der Leser den Eindruck hat, seine Aufmerksamkeit werde belohnt, ob nun mit leichten oder komplexen Gedichten, jedoch solchen, die ihn irgendwo abholen mit dem Versprechen eines wie auch immer gearteten Erkenntnisgewinns. Dazu fehlt derzeit vor allem eine vorurteilsfreie Diskussion und eine mediale Präsentation, die der Vielfalt der Stimmen Rechnung trüge. Denn solange die grösseren Verlage und literarischen Jurys das Wagnis scheuen, die ausgefahrenen Wegspuren zu verlassen, ändert sich nichts an der allseits beklagten Diskrepanz zwischen den Zeichen des Booms und der Empirie der schlechten Verkaufszahlen. Wenn Hölderlin heute lebte, gäbe man ihm eine Chance?