Textfassung eines Rundfunkbeitrags von Michael Gratz, der am 15.4. in der Literatursendung Plattform auf Radio 98,1 gesendet wurde
Die Buchmesse in Leipzig hat sich nach anfänglichen Unsicherheiten gehalten neben der in Frankfurt. Als Besonderheit der Leipziger Messe, die geschäftlich ja eher die kleine Schwester der Frankfurter ist, hat sich ihr Charakter als Lesefest etabliert. Während der vier Messetage finden von Morgens bis zum späten Nachmittag in den Messehallen und dann noch am Abend in Sälen, Galerien, Buchhandlungen und Gaststätten überall im Stadtgebiet Autorenlesungen statt, und erstaunlicherweise scheinen sie alle ein Publikum zu finden. Daniela Seel, die Verlegerin, die mit ihrem 2003 gegründeten Verlag kookbooks den Lyrikbetrieb aufgemischt und einer ganzen neuen Dichtergeneration zum Durchbruch verholfen hat, debütierte jetzt mit dem ersten eigenen Gedichtband und einer beeindruckenden Performance zusammen mit dem jungen Dichter Rick Reuther.
Im Café Europa konnte man serbische Schriftsteller und Historiker hören im Disput über die Gründe für den Zerfall Jugoslawiens und die Rolle des Staatsgründers Tito. Müßte man ihn nicht heute vor ein UN-Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellen, wurde gefragt. Die Antwort: Ja, aber dann müßte man auch de Gaulle oder Churchill vor Gericht stellen. (Ich würde vorschlagen, daß wir uns auf lebende Kriegsverbrecher konzentrieren, die es nicht nur in Afrika oder Asien gibt…).
Serbien war der diesjährige Messeschwerpunkt, zum dritten Mal ein Land des ehemaligen Jugoslawien nach Kroatien und Slowenien in den letzten Jahren. Aus diesem Anlaß wurden neue Übersetzungen von Romanen und Gedichten serbischer Autoren präsentiert. Junge serbische Lyriker stellten sich vor mit einem Originaltext und einer Übersetzung, eine vielfältige Welt, die es zu entdecken gilt. Schon einmal zur Zeit Goethes war Deutschland ein Vermittler der serbischen Literatur. Seither haben wir Boden verloren, aber vielleicht läuft ja ein Revival.
Der junge Leipziger Verlag Reinecke und Voß, den wir in einer Sendung im vergangenen Herbst schon einmal vorgestellt haben, präsentierte neue Übersetzungen hierzulande unbekannter Quellen der modernen Literatur. Jürgen Buchmann übersetzte einen Band mit Prosagedichten, das ist eine in Frankreich traditionsreiche Dichtungsform, der sich auch die Klassiker der modernen Lyrik bedienten wie Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud. Aloysius Bertrand heißt der bei uns bislang wenig bekannte Autor, von dem man erfahren kann, daß zum Beispiel der „Erfinder“ des Surrealismus André Breton ihn für einen der Vorläufer der Bewegung hielt.
Die andere bedeutende Entdeckung dieses Verlages ist eine Programmschrift eines der Pioniere des russischen Futurismus, der in Moskau und St. Petersburg vor und während des 1. Weltkrieges in neue Horizonte vorstieß. Wir kennen Wladimir Majakowski. Er war Futurist, zumindest bevor er sein Schaffen in den Dienst der russischen Revolution stellte, seinem Lied auf die Kehle tretend, wie er sagte. Wir wissen, daß es ihm nicht gut bekam. Die neue Gesellschaft konnte ihn nicht brauchen. 1930 schoß er sich eine Kugel in den Kopf. In dem futuristischen Poem „Wolke in Hosen“ hatte er das 15 Jahre vorher prophezeit: „Wärs nicht besser, auf die Stirn einen Schlußpunkt aus Blei zu setzen“, hieß es da.
In den 70er Jahren wurde im Westen, zu dem von Rußland aus gesehen auch die DDR gehörte, in beiden Teilen Deutschlands also ebenso wie in Amerika und Westeuropa der Dichter Welimir Chlebnikow bekannt und berühmt als der „Vorsitzende des Erdballs“, wie er sich nannte, ein Erforscher und Erfinder von Sprachen. Eine „Sternensprache“ wollte er erfinden und erfand sie in seinen Gedichten. Es handelt sich um Lautgedichte, die die Russen vor den Dadaisten erfanden. Eine Sprache jenseits des Verstandes wollte man finden, auf Russisch heißt das Sa-um.
Bei Reinecke und Voß erschien jetzt zum erstenmal separat auf Deutsch ein Buch des Dritten im Bunde, oder Vierten neben Chlebnikow, Majakowski und David Burljuk. Alexej Krutschonych schuf das älteste Lautgedicht oder Sa-um-Gedicht dieser Bewegung. Das war durchaus nicht nur eine ästhetische Spielerei. Mit diesen Texten konnte man damals zum Beispiel Stummfilme klanglich untermalen. Der Tonfilm war ja noch nicht erfunden. Die Kunst der Avantgarde wollte die Grenzen zwischen Kunst und Leben niederreißen.
In diesem Sinn ist der Titel des Buches zu verstehen: „Phonetik des Theaters“. In unserer ästhetischen Sicht der postavantgardistischen Zeit ist das mißverständlich. Theater ist hier nicht der Kunsttempel, sondern der Marktplatz, die Straße und der Kinosaal. Es ging um die Theorie für eine ins Leben eingreifende Kunstform. Dieses Buch wurde von Valeri Scherstjanoi übersetzt. In einer Galerie und einem Laden für Kunst- und Literaturzeitschriften, um den ich Leipzig beneide, stellte Scherstjanoi, der selber von manchen als der letzte Futurist bezeichnet wird, das Buch vor und trug Lautgedichte von Alexej Krutschonych als wahre Klangkonzerte vor, die auch den skeptischen Zuhörer überzeugten.
Eine andere erstaunliche Autorin war zweimal auf bzw. während der Messe zu erleben. Elke Erb ist eine Lyrikerin der sogenannten „Sächsischen Dichterschule“ aus der Generation von Adolf Endler, Sarah Kirsch oder Volker Braun. Ihre Texte haben seit den 60er Jahren ihre Leser in den Bann gezogen, mehrmals war sie auch in Greifswald zu hören.
Vor allem aber ist sie Mentorin und verehrte Meisterin schon mindestens der zweiten Generation junger Dichter. In den 80er Jahren setzte sie sich in der DDR für die Dichter des ostdeutschen Underground ein, wie sie im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg und auch in Städten wie Dresden und Leipzig lebten.
Heute ist Elke Erb Anregerin und bewundertes Vorbild einer neuen Generation junger Dichter, die vergangenes Jahr sogar in Leipzig eine Elke-Erb-Gesellschaft gründeten, um sich für die Verbreitung ihres Werkes und die Förderung zeitgenössischer Poesie einzusetzen. Bei einer Lesung in der Gaststätte Waldfrieden brachten junge Dichter ihr ein literarisch-musikalisches und sogar tänzerisches Ständchen und stellten ein neues Buch vor, in dem sich junge Schriftsteller auf Texte von Elke Erb ihren eigenen Reim machen. „Meins“ hieß ein Buch von Elke Erb in der Buchreihe roughbooks des Schweizer Verlegers Urs Engeler. Der jetzt präsentierte Huldigungsband trägt den passenden Titel „Deins“, ebenfalls bei roughbook erschienen und unter www.roughbook.ch erhältlich. Bei der Veranstaltung gab es auch die Uraufführung eines „rough“-Songs, den man hier von Christian Filips und den Besuchern der Lesung in Leipzig gesungen hören kann.
Auf der Messe wurde Elke Erb mit dem angesehenen Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet. Damit verbunden ist die Preissumme von 12.000 Euro, aber die Besonderheit ist, daß es nicht eine , sondern gleich 11 Preisverleihungen gibt, nämlich in jedem der beteiligten Literaturhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Elke Erb las bereits in Leipzig, Salzburg, Graz, Hamburg und liest zur Stunde in Berlin. Am 3. Mai wird sie ganz in unserer Nähe zu erleben sein, das Literaturhaus Kuhtor in Rostock gehört nämlich zu den Initiatoren des Preises. Anschließend geht es noch nach München, Stuttgart, Zürich, Frankfurt/ Main und Köln.
Plattform gratuliert der Autorin Elke Erb und wird ihre Bücher „Meins“ und „Deins“ in einer der nächsten Sendungen vorstellen.
- Daniela Seel: ich kann diese stelle nicht wiederfinden, Kookbooks, 64 S., ISBN 9783937445465
- Eintrittskarte (Ulaznica) Panorama der serbischen Lyrik im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Dragoslav Dedović, Drava Verlag Klagenfurt
- Aloysius Bertrand: Gaspard de la Nuit – Phantasien in der Manier Callots und Rembrandts. Aus dem Französischen übertragen von Jürgen Buchmann mit einem Nachwort des Übersetzers. 150 S. ISBN: 978-3-9813470-9-8. 11,90 Euro
- Alexej Krutschonych „Phonetik des Theaters“ [Taschenbuch] herausgegeben, mit einem Nachwort und aus dem Russischen übersetzt von Valeri Scherstjanoi. Verlag Reinecke und Voß Leipzig. 10 Euro
- Deins. 31 Reaktionen auf Elke Erb. Hrsg. von Urs Engeler u. Christian Filips. roughbook 013. 10 EUR