Von der geistigen Revolte des Surrealismus ging bei uns nie eine Gefahr aus. Spielerische Verfahren gab es immer, auch in der deutschsprachigen Lyrik, doch sobald es um Existenzielles geht, wird es ernst. Im Surrealismus dagegen fängt, wenn es existenziell wird, das Spiel erst an. Es besteht darin, sich in einen Zustand höchster Empfänglichkeit zu versetzen, eine Art Schöpfungstaumel, in dem die Wörter wie geladene Teilchen aufeinanderstoßen und überraschende neue Verbindungen eingehen.
Wie wohl kein anderer Schriftsteller hierzulande hatte sich der in Berlin lebende Lyriker Richard Anders diesem suggestiven Selbstbefreiungsprogramm verschrieben, mit kurzen Seitensprüngen zu anderen lyrischen Ausdrucksformen.
Der gebürtige Ostpreuße aus Ortelsburg kam zum Surrealismus wie noch jeder echte Surrealist: auf dem Pilgerpfad nach Paris. Es war Liebe, ja Treue auf den ersten Blick, als er in den sechziger Jahren André Breton vorgestellt wurde und an den abendlichen Treffen der Gruppe teilnehmen durfte. …
Seit Ende der sechziger Jahre hatte Richard Anders, der gelegentlich Lyrik aus dem Englischen und Französischen übersetzte, Gedichte und Prosa, Aphorismen und essayistische Studien veröffentlicht, etwa den Erzählungsband „Hörig“ mit Collagen des Autors (1997) und „Die Pendeluhren haben Ausgangssperre“ (1998). Besonders in den Jahren nach der Wende stieß er mit seinen Texten in Ost-Berliner Avantgarde-Kreisen auf größere Resonanz. 1998 erhielt Richard Anders den Wolfgang-Koeppen-Preis, 2007 den F.-C.-Weiskopf-Preis.
Anders hat in früheren Jahren viele bemerkenswerte Begegnungen gemacht, etwa mit Hans Henny Jahnn, dem damaligen „Finisten“ Peter Rühmkorf und – in Paris – mit Henry Miller, mit dem er lange Gespräche führte. Die Arbeit an seinen Tagebüchern, die ihn in den letzten Jahren beschäftigte, konnte er noch beenden. / Gabriele Killert, Tagesspiegel