103. Elegie (Opitz)

Wie bereits angekündigt, veröffentliche ich hier ausgewählte Einträge meines Lyrikwiki Labor mit dem Ziel, durch Diskussion Anregungen und Verbesserungsvorschläge zu erlangen (und wenn möglich Mitstreiter zu gewinnen). 

Wer sich nicht für Philologie und solche Dinge interessiert, heiße er Tim oder Tom, könnte ebensogut zur Sache sprechen oder für immer schweigen (oder wie das heißt).

Im V. Kapitel seines Buches von der Deutschen Poeterey (1624) behandelt Martin Opitz die Einteilung der Dichtkunst in Gattungen, die er Genera carminis und arten der getichte nennt. Mehr: Gattungen_(Opitz)
Eine der von ihm aufgezählten Gattungen ist die Elegie. Opitz schreibt:

In den Elegien hatt man erstlich nur trawrige sachen / nachmals auch buhlergeschäffte / klagen der verliebten / wünschung des todes / brieffe / verlangen nach den abwesenden / erzehlung seines eigenen Lebens vnnd dergleichen geschrieben; wie dann die meister derselben / Ouidius/ Propertius/ Tibullus/ Sannazar / Secundus/ Lotichius vnd andere außweisen.

Interessant an dieser Beschreibung ist, daß Opitz an einem weiten Gattungsbegriff festhält, der gegensätzliche Inhalte und Töne ausdrücklich einschließt, während in vielen neueren Nachschlagewerken einseitig die umgangssprachliche Bedeutung im Sinne von Klagelied dominiert, wie in diesem Eintrag im Harenberg Literaturlexikon von 1997:

(elegos, griech.; Trauergesang mit Flötenbegleitung), in der Antike zunächst Bezeichnung für jedes Gedicht in Distichen mit Ausnahme des Epigramms
Die ältesten formal ausgereiften E. finden sich im 7. Jh. v.Chr. in Griechenland. Bei Tibull, Properz und Ovid erfährt die E. die für ihre weitere Geschichte charakteristische inhaltliche Ausprägung zum Gedicht der Klage und Resignation. [1]

Diese moderne Definition ist weiter und zugleich enger als die sehr kurze bei Opitz. Opitz irrt sich über die geschichtliche Entwicklung, indem er die Bedeutung als Klagelied für die ältere hält. Tatsächlich waren die ältesten griechischen Elegien bei Kallinos, Tyrtaios, Mimnermos, Solon, Theognis und Archilochos Dichtungen in elegischem Versmaß (Distichen), die zur Flötenbegleitung vorgetragen wurden ohne Rücksicht auf klagenden Inhalt. Die erhaltenen Elegienfragmente von Archilochos (ca. 680 – 630 v.Chr.) handeln vom Kriegsdienst, sowohl im Sinne des Aufrufes zur Verteidigung der Heimatstadt wie bei Kallinos und Tyrtaios als auch im moderneren, eher skeptischen Sinne. So sagt er in einem Fragment (1W = 1D), er diene dem Kriegsgott, aber „auch das Musengeschenk hat seinen Reiz für mich, versteh ich doch etwas davon“ [2], in einem anderen [5W = 6D] gibt er sogar zu, daß er seinen Schild bei der Flucht vor einem Gegner verloren habe, ein schändlicher Vorgang, für den ihn die Spartaner aus der Stadt und seine Bücher aus ihren Bibliotheken verbannten, damit er die Jugend nicht verderbe [3], und der athenische Schriftsteller Kritias wirft ihm vor, daß er seine „Feigheit“, Mittellosigkeit, Ehebruch und „haltlose Sinnlichkeit“ in seinen Gedichten selbst verbreitet habe. [4] Die Elegie (und der Jambus, den Archilochos besonders pflegt), sind damals, in den Anfängen der europäischen „Lyrik“, moderne Dichtungsformen, in denen sich moderne Menschen wie Archilochos selbstbewußt und subjektiv selbst darstellen.

Die beiden Bestimmungen, elegisches Versmaß (wovon Opitz nicht spricht, da er in den Versmaßen den westeuropäischen Nachbarn folgt und nicht den Griechen, die erst Klopstock in die deutsche Lyrik einführen wird) und „erzehlung seines eigenen lebens“ sind also von den Anfängen der frühgriechischen Dichtung an nachweisbar, während die bei uns hängengebliebene Bedeutung als „Klagelied“ erst Jahrhunderte später durchschlägt. Opitz weiß darüber trotz seines Nichtwissens in metrischen Angelegenheiten mehr als der gebildete Leser von heute, den etwa jenes Harenberg Literaturlexikon anspricht. Vermutlich hat Schillers Definition der Elegie als Trauer über die verlorene Natur und die Unerreichbarkeit des Ideals im deutschen Bildungsgut nachgewirkt und dazu geführt, daß wir auch Elegien Goethes und Hölderlins und sogar die Rilkes mit Schillers Philosophenblick sehen. (Opitz zu lesen war zur Zeit Goethes und Schillers verpönt, und so war man eben von Schillers Kategorien abhängig).

Tatsächlich aber lebt bei Opitz noch die Vorstellung einer modernen, subjektiven, reflexiven Gattung Elegie fort, von der sich Linien zu Goethes „Römischen Elegien“, zu Hölderlins und Rilkes Elegien ebenso wie zu Brechts „Buckower Elegien“ ziehen lassen – und bis hin zur jungen Dichtung des 21. Jahrhunderts in Ann Cottens „Elegie“ genanntem Bändchen „Das Pferd“ [5].

Anmerkungen:

[1] Harenberg Literaturlexikon. Autoren, Werke und Epochen. Gattungen und Begriffe von A bis Z. Dortmund: Harenberg 1007, S. 284.
[2] Archilochos: Gedichte. Hrsg. u. übersetzt von Rainer Nickel. Düsseldorf und Zürich: Artemis und Winkler 2003 (Sammlung Tusculum), S.9.
[3] Ebd. S. 13.
[4] Ebd. S. 303.
[5] Ann Cotten: Das Pferd. Elegie. Berlin: SuKuLTuR 2009 (Schöner Lesen 84). ISBN 978-3-941592-03-2

Ausgaben:

- Martini Opitii Buch von der Deutschen Poeterey. David Müller: Breslau 1624 (Erstausgabe)
- Herbert Jaumann (Hrsg.): Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe: Mit dem 'Aristarch' ( 1617)
und den Opitzschen Vorreden zu seinen 'Teutschen Poetemata' (1624 ... zu seiner Übersetzung der 'Trojanerinnen'
[Studienausgabe. Stuttgart: Reclam 2002

Netzquellen:

[1] Text bei gutenberg.de
[2]  Pdf der Ausgabe von 1641: Prosodia Germanica, Oder Buch von der Deutschen Poeterey :
Jn welchen alle jhre Eigenschafft und Zugehör gründlich erzählet/ vnd mit Exempeln ausgeführet wird / Martin Opitz. - Nunmehr zum Fünfften mahl
auffgeleget. [Electronic ed.]. - Wittenberg : Berger, 1641


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