101. Wandelbare Elefanten

Von Marius Hulpe

Grass Literatur war nie wirklich politisch, nur dachten es alle. Jetzt, wo er tatsächlich politisch schreibt, scheint es fast zu spät. Doch dazulernen kann man immer.

Wenn Literaturnobelpreisträger, die sich noch immer als das Gewissen einer Nation verstehen, sich neue, aktuelle Hobbys suchen, und selbst dann, wenn ihnen die Aktualität längst über den Kopf gewachsen ist (was überhaupt nicht schlimm wäre, würden sie sich nicht ständig am Versuch abarbeiten, das Gegenteil zu beweisen), noch versuchen, zu einer vorbildhaften Stimme zu finden, dann – sollte man nicht auf sie einprügeln, so wie wir auch nicht auf unseren Großvater einprügeln, wenn er störrisch und maulend in der Ecke sitzt und an seiner Stulle knabbert. Wir sollten, als aufgeklärte Zeitgenossen, für die wir uns so gerne halten, uns dem zuwenden, was an Opas Perspektive vielleicht erstrebenswert ist, worin das Momentum liegt, das in unserer Welt verlorengegangen zu sein scheint.

Dabei verwundert es zu sehen, wie verwundert und enttäuscht sich manch Feuilletonist gibt, dass der Herr mit den urplötzlich wieder aus ihm sprudelnden Gedichten in Sachen Politik keine Treffer mehr landet – war doch in den Augen seiner Adepten über Jahrzehnte hinweg nie jemand aufgeklärter und in politischen Sachfragen gründlicher.

Und gerade hier liegt das große Missverständnis begraben.

Das Werk von Günter Grass war niemals ein politisches, nur hat diesen Tatbestand offenbar eine ganze Nation geflissentlich übersehen. Zu sehr passte seine Stimme ins öffentliche Bild einer diskussionsfreudigen Gesellschaft, zu sehr passte sein sozialdemokratischer Konformismus in das Weltbild gemäßigter Linker. Dass nichts an seinen Texten besonders politisch daherkam, hat ihn nie daran gehindert, bei jeder sich bietenden Gelegenheit munter loszuquasseln wie ein Prediger der Vernunft, immer mit rauer Stimme, tragend, schwer und eindeutig in seinem Urteil. Doch gerade diese Eindeutigkeit ist nichts, das mit politischer Literatur zu tun hätte. Seit jeher ähnelt die aufgesetzte Chuzpe als Format eher dem Gestus beliebiger Hinterbänkler im Deutschen Bundestag als den Anforderungen, die ich als Leser an politische Literatur habe.

Das Tragische an der Angelegenheit ist, dass ein solch tagespolitischer Elefant im literaturpolitischen Raum so viel Platz einnimmt, dass es ganz naturgemäß an allen Ecken und Enden kracht und klirrt, und diejenigen, die gerade im Begriff waren, den Mund aufzumachen, schon wieder vor Schreck verstummen, oder einfach bloß überhört werden bei dem Getöse, den das für alle unübersehbare Tier macht. Die Liebenswürdigkeit des alten Herrn ist hierbei nur eine neue Komponente, die sich alle Jüngeren bitte wegzudenken haben, wenn sie sein Wirken und seine Entwicklung hin zum angeblichen Gewissen begreifen wollen.

Ein echtes Gewissen allerdings kennt keine Eindeutigkeit, es findet immer noch eine weitere Wendung, und außerdem beobachtet es länger, bevor es sich zu Wort meldet. Wir haben Autoren, deren Werk eine Adelung als politisches Werk verdient, und bevor der Verdacht entsteht, dass ihresgleichen hier beweint wird, muss festgestellt werden, dass etwa einem Hans Magnus Enzensberger hierfür genügend Lorbeeren um den Hals gehängt wurden, was dazu führte, dass er vor lauter Nackenschmerzen das ganze Zeug wieder von sich warf, seinen berühmten Regenschirm aufspannte und davonflog. Herrn Grass hingegen hat einen kräftigen Stiernacken, kein Lob war ihm zu viel, kein öffentliches Händeschütteln mit bleichen Sozialdemokraten zu überflüssig, und einschläfernde Sitzungen empfand er nicht als solche, sondern fühlte sich immer pudelwohl in dieser Umgebung.

Dass diese Landschaft aus Berufspolitik und Debattenschinderei allerdings rein gar nichts mit der von ihm angeblich so geliebten und forcierten politischen Literatur zu tun hat – das hat er nie begriffen. In seinem Verständnis gab es keine Grenze zwischen seinem relativ unpolitischen literarischen Schaffen und dem allwöchentlich abgesonderten Geplauder. Umso erstaunlicher ist die Wendung, die diese Geschichte seit seinem Israel-Gedicht nimmt. Tatsächlich, unabhängig von jeder Wertung, die es einen juckt, darüber zu ergießen, handelte es sich bei diesem Text um ein politisches Gedicht. Fehler der Öffentlichkeit war nur, zu glauben, es handle sich hierbei um eine späte Fortsetzung seiner politischen Literatur. Denn die hat es nie in der Form gegeben, wie es eine breite Mehrheit der Deutschen annahm. Es ist schlichtweg ein riesiger Irrtum, dessen größtes Problem ist, dass er über fünf Jahrzehnte angedauert hat. Grass ist immer ein Schmökeronkel gewesen, ausufernd, mit wenig Schnitt, dafür einem langen Atem, der mit wahnwitzigen, abgründigen Geschichten viele Leserherzen für sich einnahm, doch diese Leserherzen wollten gleich mehr, sie wollten einen gesellschaftlichen Übervater. Und er gab ihnen, wonach sie verlangten. Nur nicht in seinen Büchern, sondern im Fernsehen.

Die tatsächliche Fortsetzung des auch in seinen Texten politischen Grass gab es erst jetzt, in Form eines überraschenderweise vorzüglichen und politisch weitsichtigen Griechenland-Gedichts, das sich kritisch mit der Rolle Europas in diesem traurigen Kasperletheater beschäftigt. Ein alter Mann hat offenbar noch spät dazugelernt, schon das ist sehr erfreulich. Wenn die Öffentlichkeit, die sich nach dem Israel-Gedicht genervt oder gar angewidert abwandte, sich dazugesellen würde, differenzieren und Eindeutigkeiten misstrauen würde, wäre das noch viel, viel erfreulicher.



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