1000. Tatort "Taxi nach Leipzig": Klaus, ich habe heute kein Schnittchen für dich

©ARD

Es dürfte jetzt ungefähr acht Jahre her sein. Der kleine Fabian, damals noch jung und unschuldig, sah an einem Donnerstag per Zufall den WDR. Es war draußen kein schönes Wetter, Herbst vielleicht, in jedem Fall stürmisch und regnerisch. Donnerstags läuft im Dritten stets eine Tatort-Wiederholung. Auch damals. Es war "Die Blume des Bösen", ein großartiger Film. Die Episode habe ich bis heute mindestens fünf oder sechs Mal gesehen. Thomas Stiller führte Regie, Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär waren noch cool, Jürgen Schornagel übernahm die Episoden-Hauptrolle, der ist sowieso cool. Und der kleine Dötz Fabian war infiziert mit dem, was da Woche für Woche im Ersten läuft. Mord, Totschlag, Entführung - alles faszinierend.
Wie gesagt: Das mag jetzt gut acht Jahre her sein. Es war mein erster Tatort. Seitdem kamen bestimmt 200 für mich dazu. "Sie haben ein Motiv und kein Alibi", kann ich seitdem auswendig. Wer der Täter ist? Ja, das weiß ich stets besser als die Kommissare. Meistens zumindest. Jedenfalls denke ich das. Wenn sich die Protagonisten in Gefahr begeben, dann schreie ich durchaus mal den Bildschirm an. "Vorsiiiicht!", "jetzt hau da doch endlich ab, du Depp!", "Mach' das Licht aus, der findet dich sonst!". Sowas in der Art. Ständig. Tatort heißt: Dunkler Raum, Gardinen zu, Handy im Flugmodus, Klaus Doldingers Vorspann-Mukke genießen und mitträllern und dann wieder ablästern. "Ker, war der heute wieder mies." "Boah, was ein Tatort!" "Münster ist auch nicht mehr so cool wie früher!" (sorry, der Tatort-Münster-Diss musste einfach sein)

Draußen regnet's. Drinnen stürmt's. Vor Angst. Und vor Verrücktheit. Ein grandioser Film!  ©NDR/Meyerbroeker

Tatort, auch Polizeiruf, ja, das ist Religion. Nicht nur für mich. Manchmal werde ich dafür belächelt, wenn sie mir wieder in den Ohren liegen mit ihren neusten Netflix-Errungenschaften. "Hast du die Serie XYZ schon gesehen?" Voll cool, denke ich meistens. Tippe auf meinem Blackberry - mit Tasten! - herum, antworte dann:"Nein, hab ich nicht." Und würde am liebsten antworten:"Hast du denn schon den aktuellsten Tatort gesehen?" Lass ich lieber sein. Haben die meisten ja sowieso nicht. Na ja, was soll's. Letztens musste ich gar für eine Studie einer in den USA studierenden Dame herhalten, weil sie drüben überm großen Teich fürs Studium was über den Tatort machen musste. Vorgeschrieben von ihrer amerikanischen Uni. Sachen gibt's. Und am Sonntag gab's den 1000. Tatort. (ja, ich schlage mich hiermit offiziell für den Literaturnobelpreis in Sachen "Beste Überleitung ever" vor)
Der große Alexander Adolph steuerte das Buch bei, führte gleichzeitig noch Regie. Ein Mann, der weiß, was er tut. Hat er schon oft bewiesen - auch im Tatort. (ich sage nur: Gisbert Engelhardt) Nun denn: Der 1000. Tatort ist kein ganz normaler Fall. Wie sollte er auch, bei so einem nicht ganz alltäglichen Jubiläum. "Taxi nach Leipzig" hieß der Titel des allerersten Tatorts, Ende November 1970. Daran hing sich die ARD jetzt auf. Und kreirte einen Fall, der es in sich hat. Die 1000. Ausgabe des Tatorts ist mal wieder eine von der Sorte: Liebes Sofa, es tut mir Leid, aber ich muss jetzt hart in dich hineinbeißen - vor Spannung. Dazu braucht sie nicht viel.

Im Wald war es finster, und auch so bitterkalt. ©NDR/Meyerbroeker


Es reichen Klaus Borowski (Axel Milberg) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler). Er Kieler Kommissar, Sie LKA-Beamtin aus Hannover. Beide sind auf einer grenzenlos langweiligen Fortbildung mit dem Thema "Moderne Gefährdungsanalyse". Sie kloppen sich dort lieber um Schnittchen, er kriegt heute keine. Später begegnen sie sich wieder, diesmal im Taxi. Gefahren wird das von Florian Bartholomäi. Er mimt den Taxifahrer Rainald, Ex-Soldat. Sichtlich zerstört, verlassen von seiner Freundin Nicki (Luise Heyer), weil sie ihn und seine Nachwirkungen aus dem Krieg nicht mehr aushalten konnte. Doch Nicki hat Geburtstag und heiratet morgen, findet Rainald heraus. Und er hat genug vom Taxi fahren. Die Fahrgäste stinken und nerven, im Radio läuft 2Raumwohnung und jetzt hat er zu allem Überfluss auch noch Kommissare im Auto. Na toll. Wenn du einmal Scheiße am Fuß hast...
Auch Sören Affeld (Hans Uwe Bauer) gesellt sich zu ihnen. Der wollte bei Borowski anfangen, der lehnte ihn ab - er sei zu alt. Nun nervt er Borowski vom Tagungsort bis ins Taxi hinein. Und weil Rainald nicht angeschnallt ist, nervt der auch den. Der ist kolossal genervt, also zackzarapp: Tötet er Affeld kurzerhand.(Notwehr, oder?!) Borowski und Lindholm mutieren prompt von coolen Kommissaren zu Geiseln. Herzlichen Dank auch - zumindest im Fall von Lindholm eigentlich aber gar nicht so eine üble Verwandlung...

"Ruhe dahinten!" We proudly present: Den häufigsten Mörder der Tatort-Geschichte. ©NDR/Meyerbroeker


Ja ja, dann geht sie los. Die rasante Taxifahrt nach Leipzig. Dort wohnt Nicki. Adolph hat sich was Schmuckes einfallen lassen: Gedanken lesen. Wir hören alle Protagonisten sprechen, was sie denken, was sie fühlen. Borowski hält nichts von Lindholm ("Du Schneepflug!" "Gott, quark' mich nicht so an!"), seine Ex hieß Gabi; sie hatte eine schwere Kindheit, wurde von ihren Eltern als sonderbar - wohl wahr...- und ängstlich beschrieben. Rainald spielt Spielchen, bei denen die Kommissare nach drei Minuspunkten das Zeitliche segnen sollen. Es geht ab im Taxi, die Kommissare versuchen, ihn mit Worten zu überwältigen. Später auch mit anderen Tricks. Keiner klappt so wirklich. Fluchtversuche werden eingeleitet. Die Stimmung im Auto könnte besser sein.

Fazit

Es ist schon famos, wie Adolph es schafft, eine Geschichte quasi 90 Minuten lang in einem Auto zu erzählen. Und wie er aus dieser Taxifahrt eine ganz besondere macht. Wir erfahren Dinge über alle Beteiligten, die wir in "normalen" 90 Minuten wohl nicht erfahren hätten. Die Gespräche haben eine unfassbare Tiefe, der Prozess der Beteiligten während der Geiselnahme wirkt zudem sogar recht realistisch. Bartholomäi gruselt einfach, eine sehr imponierende Darstellung des Freaks am Steuer. Bartholomäi - das hat der Tatort-Fundus errechnet - war übrigens am häufigsten der Killer im Sonntagskrimi. Weil er einfach gut ist. Der restliche Cast läuft ebenfalls zur Hochform auf. Das Licht im Auto ist gedämmt, dunkel und kühl die Stimmung, den beiden Insassen auf der Rückbank steht die Anspannung und Angst nur so ins Gesicht geschrieben. Sogar der Humor kommt nicht zu kurz.
Und dann der Typ am Steuer, ein mehr als verzweifeltes Ich. Die sowieso dezent verrückten Ermittler - insbesondere Borowski - , ihr verrückter Fahrer. Ein Trio, das man gerne länger sehen wollte. Die Kamera tut ihr Übriges, hier stimmt einfach alles. Handwerklich, inhaltlich und dramaturgisch. Und am Ende wird's endgültig grandios überraschend. Eines Jubiläums würdig, schwer in Worte zu fassen - einfach selbst gucken. Vielleicht werdet ihr dann so verrückt wie ich. Ich hoffe es für euch.
BEWERTUNG: 10/10Tatort: Die Wahrheit (München), 13.11.2016, Regie & Buch Alexander AdolphDarsteller: u.a. Axel Milberg, Maria Furtwängler, Florian Bartholomäi

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