von Johanna Krappmann
Uganda – Fotos: J. Krappmann
Von Europa sieht alles anders aus, irgendwie geordneter, strukturierter, sauberer. Die Fotos sind in matt oder hochglänzend, aber sie haben nicht den Geruch von Müll, Matoke oder Urin und auch nicht die Geräusche von schlecht abgespieltem, trotzdem lautem Rap, der von manchem Truck herunterschallt oder von Diesel-Generatoren oder einfach die menschlichen Geräusche – Rufen oder Schimpfen, Kinder, die entzückt quietschen. Es ist warm bis stickig und was man sieht ist nicht vor einem auf einem Bildschirm, sondern es ist um einen herum und erscheint wegen seiner Fremdheit bedrohlich. Man befindet sich auch nicht im sicheren Wohnzimmer, sondern mitten unter den Männern, Frauen, Kindern, die einen neugierig angucken und zurufen: Hi Muzungo, how are you? Und man muss sich permanent entscheiden: Reagieren? Wie? Was denken sie? Wie sehen sie mich? Bin ich die wandelnde Einladung nach Europa? Oder ist es einfach eine freundliche Neugierde für das Fremde? Jedes Stolpern wird von allen registriert, jede Unbeholfenheit. Es ist eine echt gute Übung für jemand, der im Mittelpunkt stehen möchte. Für jeden anderen ist es ein Eiertanz. Schnell gewöhne ich mir an, stark zu diskriminieren: auf männliche Aufrufe reagiere ich maximal flüchtig, während ich mit Kindern und Frauen teilweise ausführlich rumschäkere.
Wo soll ich anfangen? Ich bin hierhergekommen ohne Erwartungen. Ich habe alle meine früheren Interessen an den Nagel gehängt. Einiges haben wir schon gemacht in Afrika. Wir wollten immer großartige Projekte aufbauen, in denen Menschen eine gewaltfreie Lebensart entwickeln sollten, zusammenarbeiten und ihre Schwierigkeiten gemeinsam überwinden, gleichzeitig ihre Mentalität verändernd: weg von Hilfe verlangenden, hin zu Hilfe gebenden Menschen. Tolle Ziele. Irgendwie hat nicht viel geklappt. Ich will nicht mehr hierher kommen und den Leuten sagen, was sie tun sollen, so wie es die Muzungos schon immer gemacht haben. Erst haben sie sie als Sklaven verschleppt, dann haben sie das Christentum gelehrt, dann haben sie ihnen die monarchische Staatsform nahe gebracht, dann haben die Weißen Gott und König verloren, die Demokratie eingeführt, das Rechtssystem überholt, jedesmal kommen sie dann nach Afrika, um zu verkünden, wie es jetzt gemacht werden soll, den Schwarzen, den armen Hilflosen, denen man ja immer die Welt erklären muss. Und in Wirklichkeit kamen sie immer mit einer Hand, die zur Hilfe ausgestreckt war, und einer, die sich gleichzeitig genommen hat, was sie kriegen konnte. Heutzutage ist nur noch schwer zu sagen, welche Hand zerstörerischer war. Die eine hat Afrika arm und krank werden lassen, die andere hat das Selbstvertrauen genommen, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können.
Ich weiß, daß die Menschen hier besser Bescheid wissen als ich. Meine Welt ist sehr anders als ihre. Ich bin ohne Projekt und Absicht und das macht, daß ich mich sehr frei fühle und das erste Mal das Gefühl habe, den Menschen auf Augenhöhe begegnen zu können. Ich bin mir darüber klar, daß es viele gibt, die bei einer Muzungo wie mir ihre persönlichen Interessen im Hinterkopf haben – Visum und Flug nach Europa, Geld, Prestige – aber unbeirrt versuche ich ihnen ins Herz zu gucken.
Also, was will ich hier? Ich bin neugierig, ich bin immernoch Humanistin. Ich möchte mit den Menschen reden, ihnen Fragen stellen. Ich sehe nichtsdestotrotz mehr Ähnlichkeiten zwischen uns als Dinge, die uns trennen. Ich fühle mich verbunden. Und ich bin immernoch ich, mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen, mit meinen Ansichten zu Leiden und Gewaltlosigkeit und meinem Bedürfnis, den Menschen auf einer tiefen Ebene zu begegnen, welche mir als die für uns Menschen einzig bedeutsame erscheint. Die Frage nach dem Glück ist eine, die uns alle verbindet und die uns, wenn wir darüber nachdenken, dahin katapultiert, wo wir über unser Menschsein reflektieren und sich alle Grenzen zwischen uns auflösen. Ich nehme mir vor, diejenigen, denen ich begegne, danach zu befragen, was sie für notwendig halten, um glücklich zu sein.
In Uganda speziell sehe ich die Ähnlichkeit zu unserer deutschen Geschichte. Sie hatten ihren Idi Amin und Kony und wir den Hitler. Es liegt nur unterschiedlich lang zurück. Während ich die dritte Generation nach der Täter/Opfergeneration bin, sind sie die erste. Hier bilde ich mir ein, in den Gesichtern noch die Furcht und das Mißtrauen zu sehen, und den Wunsch zu vergessen, so wie unsere Großeltern einfach nur vergessen wollten und neu anfangen. Neu anfangen aber kann man nur mit Hoffnung. Hoffnung ist hier Mangelware. Kein Marshallplan, kein Wirschaftswunder ist hier zu erwarten. Die Politik wird gemacht von den 2% psychisch Kranken (wie ein Freund, der den Regierungskreisen nahe ist, die politische Riege bezeichnet) unter Einflußnahme der internationalen Konzerne und Geldgeber mit ihren Interessen.
Kampala
Ich kam mitten in der Nacht an, um 4 Uhr, Flughafen Entebbe, 40 Kilometer von Kampala, der Hauptstadt, entfernt, und vier Menschen warteten bereits seit 2 Stunden auf mich, von denen ich nur einen flüchtig kannte. Es war der Künstler Arthur, der mich vielleicht am meisten in Uganda überraschen würde, den ich beim GuluWalk in Berlin kennengelernt hatte, wo er filmte. Bei ihm war Rodger, ein klug und frei denkender und redender Mittzwanziger. Er konnte mir sehr viel über die jüngere, gebildetere Schicht Ugandas sagen. Dann war da noch Orion, ein gestrandeter US Amerikaner, der hierherkam, um in einer NGO zu arbeiten und in eine tiefe Lebenskrise geriet. Ausserdem James, der das Auto fuhr. Wir fuhren in den Nordosten von Kampala, wo Arthur und Rodger sich eine kleine Bude teilen, bestehend aus zwei Zimmern. Ihre gemeinsame Idee ist, hier Platz für Besucher zu haben. Nicht etwa, um Geld damit zu verdienen, sondern aus Gastfreundschaft und um Leute kennenzulernen, denen sie alles zeigen können. Für mich war das neu. Aus anderen Afrikabesuchen kannte ich es, daß die Menschen, die wir trafen, sich schämten für ihre bescheidenen Behausungen und uns lieber nicht nach Hause mitnahmen. Die drei Jungs überliessen mir das Zimmer mit dem Doppelbett, Arthur und Orion fuhren woanders hin und Rodger nahm Vorlieb mit der Couch.
Alles ist weit unter german standard. Jeder kriegt mit, wenn Du auf Klo gehst, weil die Türen nicht richtig schliessen. Danach mußt Du den Duschkopf in den Spülkasten halten, damit die Spülung wieder voll wird. Zum Kochen gibt es einen Dinosaurier-Gasherd, der über eine Gaspatrone betrieben wird. Die Straße zu diesem Heim ist aus rotem Lehm mit Löchern oder vielleicht sollte man eher sagen, es sind Löcher, die in ihrer Aneinanderreihung die Vermutung zulassen, es handele sich um eine Straße. Kühlschrank gibt es nicht, denn wenn man kochen will, schickt man einfach den Jungen, der unten am Haus rumlungert, und als „Mädchen für alles“ fungiert, zum Markt, Tomaten oder ein Huhn kaufen, das dann vorort geschlachtet wird. So ist alles immer schön frisch. Auch wenn man airtime braucht (alle Handys und Satelliten USB Sticks funktionieren über prepaid) schickt man den Jungen. Er ist auch ein Aufpasser, denn diese Wohnung ist gehobener Standard für Uganda, ein Land, das zum größten Teil aus Landbevölkerung besteht oder Stadtbevölkerung in armseligem Zustand, die nur selten in modernen Behausungen wohnen. Auf dem Land herrschen häufig noch die Rundlehmbauten vor – ein Raum, strohbedeckt, für die ganze Familie. Ein Klo mit Wasserspülung ist eine Seltenheit auf dem Lande und in der Stadt oft schwer erträglich, weil so marode und dreckig. Häufig werden die Toiletten und Waschstellen von mehreren Mietparteien benutzt. Stromausfälle sind an der Tagesordnung oder der Strom ist einfach weg, weil die Rechnung nicht bezahlt wurde, weil jemand das Geld für sich eingesteckt hat oder man sich uneinig ist, wieviel und von wem gezahlt werden soll. Die Mieter kümmern sich nicht um die Räumlichkeiten und Installationen, weil sie jederzeit vom Landlord auf die Strasse gesetzt werden können (was oft passiert, gerade wenn sie alles schön renoviert haben). Das ist ein Grund, warum alles so abgerissen ist, wenn eigentlich ein Eimer Farbe schon genügen würde, es ein bißchen erfreulicher zu gestalten. Selbst wenn es irgendwelche Gesetzgebungen geben sollte, ist die Korruption im Zweifelsfall die stärkere Partei.
Rodger erzählt mir, daß sie für die Wohnung umgerechnet 130 Euro im Monat zahlen. Er selbst bekommt als Einstiegsgehalt in der internationalen Firma, die Computerzubehöre vertreibt, als Universitätsabsolvent 80 Euro Monatsgehalt. Er sagt allerdings, daß ein Einstiegsgehalt wie es anständige Firmen zahlen 320 Euro wäre. Allerdings ist es so schwer einen Job zu kriegen, daß die Arbeitgeber es sich eben leisten können, nach Belieben den Lohn zu senken. Wie er es schafft, mit diesem Gehalt halbwegs normal zu leben ist mir ein Rätsel, denn auch Transportkosten sind nicht gering. Die Fahrt zur Arbeit kostet etwa 1 Euro im überfüllten Sammeltaxi (öffentliches Transportsystem gibt es nicht) und ein Essen etwa 2 Euro. Benzin kostet 1,20 Euro der Liter. Als ich meine fünf T-Shirts und zwei Hosen bei Aisha waschen ließ, hat sie mir dafür 60 Cent berechnet.
Wirtschaftlicher Aufschwung?
Jede Kleinigkeit ist also eine große finanzielle Belastung für die Mehrzahl der Bevölkerung, die meist von kleinen An- und Verkaufgeschäften lebt, von Tagelöhnerjobs oder was auch immer sich findet, um an etwas Geld zu kommen. Vor 5 Jahren war ich das letzte Mal in Afrika, in Zambia, und hatte inzwischen über Medien den Eindruck bekommen, es gehe aufwärts wirtschaftlich mit vielen afrikanischen Ländern. Uganda gilt als eine aufstrebende Marktwirtschaft mit Wachstumsraten um die 7 %. Jetzt bin ich hier und frage mich, ob man mich verarschen will. Ich sehe nichts von aufstrebend. Ich sehe dieselbe Armut, dieselbe Jämmerlichkeit der Gebäude und technischen Einrichtungen, dieselben Busse und Vehikel, die kurz vor dem Zusammenfallen sind (was auch ständig passiert, überall am Straßenrand sieht man Leute eifrig ihre fahrbaren Untersätze reparieren), dasselbe Chaos. Jede Kleinigkeit dauert den halben Tag. Die Leute verbringen den Großteil ihrer Zeit damit, von A nach B zu kommen, irgendetwas zu besorgen oder Verwandten aus der Patsche zu helfen. Jeder lebt auf einem Pulverfass und muss jederzeit darauf gefasst sein, daß das Chaos um ihn herum ausbricht in Form der plötzlichen Erkrankung oder des Todes eines Familienmitgliedes, des Verlustes von Job oder Wohnung, Ärger durch irgendwelche Autoritäten oder was auch immer. Infolgedessen machen die wenigsten Pläne, die weit über den Tag hinausgehen. Man versucht eher mühsam, das Essen und die Ausgaben des Tages zu erwirtschaften, sich sauber und gesund zu halten, die Familie so gut wie möglich zu versorgen. Wenn man das geschafft hat, hat man zwar nichts für die Zukunft, aber wenigstens für das kümmerliche Überleben getan.
Tatsächlich fragt man sich verzweifelt, wo man denn hier anfangen sollte. Die Strassen, von denen nur die Hauptstraßen gepflastert sind, platzen bereits jetzt aus allen Nähten. Wie sollte das werden, wenn noch mehr Menschen ein Auto kaufen können? Soll man mit der Infrastruktur anfangen? Ich erzähle jemand, der mir sagte, ausländische Firmen würden nicht investieren wegen des chaotischen Verkehrs (da standen wir um 21 Uhr abends bereits 2 Stunden im Stau), daß man in Brandenburg das Tempolimit an einigen Stellen von 80 km/h auf 70 herabsetzen wollte und die Geschäftsleute protestiert hatten, weil sie dadurch zu hohe Gewinneinbußen haben würden. Oder soll man mit der Bildung anfangen? 50% der Bevölkerung sind unter 14 Jahre alt und warten auf eine Schulausbildung. An ihnen und ihrem Start ins Leben entscheidet sich die Zukunft Ugandas. Oder mit dem Gesundheitssystem? Die Lebenserwartung liegt bei 54 Jahren, jedes 10. Kind stirbt, bevor es 5 Jahre alt ist. Der Grund sind häufig durch bessere Hygiene vermeidbare, durch Antibiotika leicht kurierbare Infektionserkrankungen. Im staatlichen Krankenhaus Mulago, so erzählt mir ein dort arbeitender Pharmazeut, kommen auf 700 hilfesuchende Menschen pro Tag 5 Ärzte, die meist nur grob nach Symptomatik schnell irgendein Medikament verschreiben und oft nur ein Viertel der Dosis, damit es für alle reicht. Auf dem Land schafft man es oft nicht rechtzeitig zur nächsten medizinischen Versorgung.
Wohin fliessen eigentlich die 7% Wirtschaftswachstum?
Präsident Museveni jedenfalls hat sich gerade im Stadtzentrum ein vielstöckiges, modernes presidential office Gebäude bauen lassen, was mit großen road blocks vor möglichen Terroristen abgeschirmt wird. Awich, ein ugandanischer Freund, den ich bereits aus Europa kenne, führt mich herum und sagt scherzend, diese road blocks wandern von Monat zu Monat ein bißchen weiter in den öffentlichen Raum hinein. Die Armee wird seit Jahren weiter ausgebaut, trotzdessen, daß der Bürgerkrieg seit ein paar Jahren vorbei ist. Überall in der Stadt laufen Polizisten (oder Militärs?) sichtbar mit Gewehren herum und an jedem öffentlichen Gebäude werden Handtaschen gecheckt. Es produziert ein Klima, das verängstigend ist, nicht nur für potentielle Terroristen. Dann gibt es sage und schreibe 75 Regierungsminister für dieses Land, das eine Bevölkerung von 31 Millionen hat, weniger als ein Drittel von Deutschland. Und es ist in 112 Distrikte unterteilt, die jeweils mehrere Repräsentations- und Verwaltungsebenen haben. Die Anzahl wurde erst vor kurzem verdoppelt. Ich lese irgendwo, daß eine Eigenschaft von Kleptokratien die Verdoppelung und Verdreifachung von Posten ist. Man muss halt alle Leute, die einem irgendetwas Gutes getan haben, noch unterbringen auf Staatskosten. Einmal screene ich eine Webseite, auf welcher die Regierung die Entwicklungs-Projekte auflistet mit der Summe in Millionen, die dafür vorgesehen sind. Sehr beeindruckend! Richard in Gulu erzählt mir, daß an der Landstraße, die er nimmt, um zu den Kindersoldatenprojekten zu fahren, häufig am Straßenrand große Schilder aufgestellt werden, was für eine großartige Sache hier entstehen soll und bis auf das Schild passiert dann in den nächsten Jahren nichts. „Implementation“ sei das große Problem, sagt mir auch Awich, der Jurist, ob es nun um die Durchsetzung von Gesetzen geht oder die Durchführung von Entwicklungsprojekten zur Armutsreduktion, Gesundheit oder Bildung. Jeder verfolgt lieber sein eigenes Interesse, sei es der Polizist, der lieber einen Geldschein einsteckt, statt die Verkehrsregeln durchzusetzen oder der Minister, der das Projektgeld lieber an seinen Clan verteilt.
Zur Politik
Die Bekämpfung der Korruption ist daher vielleicht das wichtigste Ziel. Jedoch wäre es da wichtig, daß die Führungsebene mit gutem Beispiel voranginge. Museveni, der Präsident, jedoch schart momentan eher die schlimmsten Menschen um sich, statt diejenigen zu fördern, die sich durch Klugheit und Uneigennützigkeit bewährt haben. Grund ist wohl das eigene Interesse und das seiner Familie, weiterhin der führende Clan zu bleiben, was leichter ist, wenn potentielle Nachfolger sich selbst laufend weg „scandalizen“, durch Sauf-, Korruptions- und Sexgeschichten, von denen die Zeitungen voll sind. Die nun anlaufende Förderung von Öl in Uganda scheint bei diesem Festhalten an der Macht auch eine Rolle zu spielen, so hat die Familie von Museveni bereits große Ländereien, die im Ölabbaugebiet liegen, gekauft. Spekuliert wird eigentlich nur darüber, ob die Frau oder der Sohn Musevenis Nachfolger wird, denn er selbst wird bald seine natürliche Grenze erreicht haben.
Soll man also in erster Linie für seine politischen Rechte kämpfen? Ein gefährliches Unterfangen: politische Proteste, Opposition wird mit Brutalität bereits im Keim erstickt. Letztes Jahr hat Besigye von der oppositionellen Partei (Forum for Democratic Change) einen gewaltlosen Protest „Walk-to-Work“ gestartet, um durch demonstratives Laufen zur Arbeit zu veranschaulichen, daß viele Menschen sich nicht leisten können, den Bus zur Arbeit zu nehmen. Dieser harmlose Protest wurde vom ersten Tag an blutig gestoppt. Mindestens neun Menschen verloren dabei ihr Leben und Besigye wurde mehrfach verhaftet, verletzt und ist schließlich nach Kenia ins Krankenhaus gegangen, um sich behandeln zu lassen. Mein regierungsnaher Freund sagte, Museveni hätte gescherzt: „Ja, demonstrieren kann jeder gerne. Da hinten im Wald, da ist ein Platz, wo man den ganzen Tag nach Belieben demonstrieren darf.“
Nicht wenige, die seit Jahrzehnten die Entwicklung in ihrem Land mitverfolgen und miterleben, sagen mir dennoch auch positives zu Museveni. Damals, als er im Busch war und gegen Obote kämpfte, der ähnlich gewütet haben soll wie Idi Amin, haben sie den dialektischen Materialismus gepaukt und eher sozialistische Ideale verfolgt. Museveni ist kein Dummkopf, sondern jemand, der sich gerne mit Studenten zusammengesetzt hat zur Diskussion. Viele seiner Gesetze haben zur Befriedung und größeren Stabilität beigetragen. Sein schnelles Handeln bei der HIV Epidemie war beispielhaft und hat Uganda davor bewahrt, zu den am schlimmsten betroffenen Gebieten zu gehören. Doch gerade seine früheren Mitstreiter sind diejenigen, die jetzt am enttäuschtesten sind: von dem jahrzehntelangen Hockenbleiben im Präsidialamt, wofür er nach eigener Aussage niemand anders sieht, der geeignet sei (ein Schlag ins Gesicht von Parteigenossen), von der offen gedeckten Korruption und von der Einschleusung vieler Familienmitglieder in hohe Posten.
Kinder
Das auffälligste in all dem Getümmel sind die Kinder. 50% der Bevölkerung ist unter 14. Überall sind Kinder aller Altersstufen am Spielen, am Arbeiten, Geschirr spülen, Wäsche waschen, Sachen herumschleppen, Geschwisterkinder herumschleppen. Traditionell war Kinderreichtum vorteilhaft, weil Kinder auf dem Land als Arbeitskräfte gebraucht wurden. Wer einmal mit bloßer Muskelkraft versucht hat, ein Feld umzugraben, versteht das. In Zeiten, wo es vor allem auf gute Schulbildung ankommt, sind viele Kinder ein großer Armutsfaktor. Es gibt staatliche Schulen, die schulgebührfrei sind, aber sie sind so schlecht, daß der Großteil der Kinder seine Examen hier nicht besteht. In Gulu sagte mir Richard, bestehen 2 von 100 Kindern die Examen, um auf die Sekundarschule zugelassen zu werden. Awich, der sich selbst von einem Dorfjungen, über einen Kindersoldaten zu einem gewählten Mitglied einer UNO Kommission hochgearbeitet hat, sagt dazu: „Dann musst Du einer von den zwei sein!“, was natürlich an der offensichtlichen Unfähigkeit der Schulen, alle Kinder gut auszubilden, vorbeidiskutiert ist. Auch Prügelstrafe ist normal. Viele sagen: besser keine Schule, als die staatlichen Schulen. Daher versuchen selbst arme Eltern, ihre Kinder in anderen Schulen unterzubringen, die Schulgebühren verlangen. In Anbetracht dessen, daß im Durchschnitt auf eine Frau 6 Kinder kommen, umso ärmer die Frau, umso mehr, eine normalerweise nicht zu bewältigende Herausforderung. Selbst die Hefte und Uniform für die gratis Schulen sind ein großer finanzieller Aufwand. Manchmal ist für ein Schuljahr das Geld da, fürs nächste Jahr nicht mehr. So finden sich in jeder Klasse Kinder verschiedenster Altersstufen. Im Katanga Slum gehen nach Arthurs Schätzung etwa ein Drittel der Kinder zur Schule. Entweder sie müssen mithelfen zuhause die kleineren Geschwister versorgen oder helfen, den Lebensunterhalt zu verdienen oder es ist einfach kein Geld vorhanden, um die Schulhefte oder die Uniform zu bezahlen.
Dinah, eine ugandanische Humanistin, die seit langem Projekte in Schulen macht wie „Peace Clubs“ oder Gewaltlosigkeitstrainings, erzählt mir von den Sekundarschulen. Sie sagt, daß ein großes Problem das Mobbing ist. Ältere Schüler mobben selbstverständlich die jüngeren und viele tragen dabei Traumata davon. Sie sagt, auf diese Weise werden sie perfekt vorbereitet auf eine Gesellschaft, in der der Mächtigere und Reichere diejenigen unter sich wie Dreck behandelt. Tatsächlich ist es vom ersten Moment an sehr auffällig für mich, daß diejenigen, die in der gesellschaftlichen Leiter weiter unten stehen (Fahrer, Verkäufer, Personal,…), grundsätzlich ohne Bitte und Danke nur Befehle bekommen in meist sehr kurz angebundenem Tonfall, während andererseits auf gleicher Hierarchieebene, aber vor allem nach oben hin, eine unglaublich übertriebene und förmliche Höflichkeit und Umständlichkeit der Ansprache stattfindet. Dasselbe Phänomen habe ich auch in anderen sehr hierarchischen Gesellschaften (wie zum Beispiel Indien oder Bangladesh) beobachtet. Selbst Freunde schockieren mich mit dieser Verhaltensweise, die völlig unbewusst zu sein scheint. Haben sie das von den kolonialen Briten übernommen?
Angesichts der vielen arbeitenden Kinder, denke ich an meine Jungs zuhause, die sich bereits beschweren, wenn ich sie bitte, den Müll rauszubringen und von ihrem Vater bekommen sie dafür sogar Geld! Hier arbeitet jedes Kind selbstverständlich mit wie jeder Erwachsene, sobald es laufen kann. Zeit zum Spielen und Schule sind Luxus und die Kindheit ist in dem Sinne etwas sehr anderes als für unsere Kinder.
Mann-Frau
Natürlich kann so ein Kapitel nur pauschalisierend geraten und ich muss dazu sagen, daß ich auch sehr gute ugandanische Pärchen kennengelernt habe und mir bewusst bin, daß auch bei uns das Thema Liebesbeziehung kein leichtes ist. Nichtsdestotrotz ist auffällig, daß viele Frauen, vor allem ärmere in der Stadt, mit ihren Kindern allein sind. Kinder bekommen und aufziehen ist ausschließlich Frauendomäne. Im besten Fall sehen sich Väter in der Verantwortung, etwas zu zahlen, aber das ist ungewiss. Viele Frauen landen im Slum, weil die Ehe scheitert und sie verstoßen werden von der Familie, samt ihren Kinder. Vielen bleibt nur die Prostitution zum Überleben. Frauen sind generell in der abhängigeren Position, nicht unbedingt, weil sie weniger arbeiten, aber weil sie die Last der Kinder haben, die geringere Bildung, den geringeren Lohn, die traditionellen Regeln eher einhalten müssen, sonst leichter verstossen werden. Sie sind meistens stark vom guten Willen von Männern abhängig und können nicht viel tun, um ihre Rechte einzufordern. Das Verhältnis Mann-Frau ist somit ein unendliches Thema. Eigentlich hat man den Eindruck einer recht freizügigen, sexuell aktiven Bevölkerung – trotz starken religiösen Glaubens. Für Frauen ist es ein Prestige, fruchtbar zu sein, und sie bekommen oft im Teenageralter ihr erstes Kind, nicht selten ohne Heirat. Heirat und Kinderkriegen scheinen nicht zwingend zusammenzuhängen. Selbst gut gestellte Frauen habe ich kennengelernt, die Kinder bekommen, ohne zu heiraten. Es hat wohl mit dem Aufwand einer Hochzeit zu tun, welche eine Bezahlung (des Mannes für die Frau) und eine große Feier mit Speisung aller Verwandter und Dorfbewohner verlangt (das können bis zu 1000 Mäuler sein). Andererseits ist Heirat für die Frauen ein sehr wichtiges Thema, denn es ist oft die einzige Möglichkeit, die sie haben, um eine existentielle Absicherung zu haben. Männer hingegen sehen sich in der Regel als frei an und bei einer traditionell meist polygamen Gesellschaft haben sie auch häufig mehrere Beziehungen. Soweit ich selbst festgestellt habe und mir habe erzählen lassen, gibt es nicht viel tiefgreifende Kommunikation zwischen Mann und Frau über Beziehungsfragen. Da herrschen eher Glaube, Hoffnung und Illusion und auch sehr viel Lüge oder Geschichtenerzählerei (um es nett auszudrücken) vor. Männer beschweren sich oft darüber, daß Frauen es nur auf Geld, Sachgüter und Status abgesehen haben und Frauen darüber, daß Männer unehrlich und unzuverlässig sind und nur andere Frauen im Kopf haben. Am Ende stehen oft Ausbrüche von häuslicher Gewalt (auch nicht nur von männlicher Seite) und existentiell bedrohliche Zustände meist für die Frauen. Der Alkoholkonsum ist ein großes Problem, weil er die schwierigen zwischenmenschlichen Zustände verstärkt. In Kampala sieht man Kampagnen-Plakate, die direkt von Alkohol abraten, um häusliche Gewalt zu verhindern. Genauso, wie es Plakate gibt, die zu Abstinenz oder Treue raten, um Krankheiten zu vermeiden.
Gulu und der GuluWalk
Am zweiten Tag fuhr ich mit dem Bus nach Gulu. In dieser Stadt in Nord-Uganda nahm der GuluWalk seinen Anfang, den wir seit drei Jahren auch in Berlin veranstalten, um gegen den Mißbrauch von Kindern als Soldaten zu protestieren. Bis zum Jahr 2005 wurde der Norden Ugandas von einer Rebellenarmee, angeführt von einem Verrückten namens Kony, heimgesucht. Er spezialisierte sich vor allem auf die Entführung von Kindern, um sie in seine Armee zu integrieren. Er beging dabei die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen, die man sich vorstellen kann. 20 Jahre lang wurden die Dörfer und Städte von dieser Bande terrorisiert. Damals wanderten Abend für Abend die Kinder der umliegenden Dörfer nach Gulu, um dort auf den Strassen zu übernachten, weil sie sich hier sicherer fühlten als in ihren Dörfern. Kirchen, öffentliche Gebäude, alle stellten Schlafplätze zur Verfügung, dennoch barst die Stadt jede Nacht vor Übernachtungsgästen. Die Kirchenoberhäupter von Uganda kamen schließlich, um demonstrativ ebenfalls hier die Nacht auf der Straße zu verbringen, um auf diese untragbare Situation aufmerksam zu machen. Kanadier schließlich veröffentlichten einen Dokumentarfilm „Invisible Children“ und starteten den ersten GuluWalk in Kanada, um aufmerksam zu machen auf diese Menschenrechtsverletzungen, die weitgehend mißachtet wurden von den weltweiten Medien. In Gulu selbst gab es 2005 den ersten GuluWalk-Protestmarsch von Eltern und Angehörigen entführter Kinder. In Berlin veranstalten wir den GuluWalk zur Unterstützung der ehemaligen Kindersoldaten in Nord Uganda, aber auch um allgemein auf den weltweiten Mißbrauch von Kindern als Soldaten aufmerksam zu machen. Auch fordern wir, daß ex Kindersoldaten ein Asylrecht haben sollen statt als Deserteure behandelt zu werden und daß es keine Werbung von Militär an deutschen Schulen geben soll, weil wir generell Krieg als legitimes Mittel ablehnen und nicht wollen, daß Kinder in diesem Glauben erzogen werden.
Projekte zur Versöhnung und Reintegration
Vor drei Jahren bereits hatte ich Beatrice Amony kennengelernt, die schon in der Universität angefangen hatte, Friedensinitiativen aufzubauen und die danach in Projekten, teilweise landesweit, an der Reintegration der Zehntausenden ehemaligen Kindersoldaten, die traumatisiert, stigmatisiert und ohne Schulbildung auch perspektivlos zurückkamen, und diversen Problemen ausgesetzt waren. Die Dorfbewohner und Verwandten sind ihnen gegenüber mißtrauisch, denn oft haben sie eigene Leute getötet (töten müssen), oft waren sie über die Jahre in der Armeehierarchie aufgestiegen und hatten nichts gelernt außer Befehlen und sich mit Gewalt durchzusetzen. Abgesehen von dem großen Leid, welches diese nun jungen Erwachsenen durchgemacht hatten, waren sie nun tickende Zeitbomben, die, wenn man ihnen keine Hilfe anbot, jederzeit wieder Waffen in die Hand nehmen könnten und sich nehmen, was sie brauchen. Beatrice arbeitete mit ihrem Lebensgefährten Richard ein dreistufiges Programm aus. In der ersten Phase dürfen die „Returnees“ erst einmal sich entspannen und wieder Kinder sein mit viel Spiel und Freizeit. In der nächsten Phase findet ein sehr praktisch orientiertes Gewaltlosigkeitstraining statt, das sie auf das zivile Leben vorbereiten soll. In der dritten Phase erlernen sie, je nach Alter und Interesse, etwas, was ihnen hilft, einen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Entweder eine Ausbildung zu Schneider, Tischler oder Maurer oder Schulunterricht, der auf die staatlichen Examen vorbereiten soll. Parallell dazu findet die Versöhnung und Reintegration ins Dorf statt, die individuell sehr unterschiedlich sein kann. Es kommen dabei häufig alte Rituale und Praktiken zum Einsatz, die früher natürlich nicht auf solche Fälle angewendet wurden, die aber trotzdem helfen, daß derjenige wieder seinen Platz findet.
Viele Europäer sprechen mich auf psychologische Hilfe an. Beatrice und auch andere haben mir gesagt, daß sie sich durchaus bewusst sind, daß diese „Kinder“ ein schlimmes Trauma durchgemacht haben, daß es aber an ihrer Lebensrealität vorbeiginge, wenn man nun die wenigen vorhandenen Ressourcen in eine Vergangenheitsbewältigung stecke und die Zukunftsperspektiven brach lägen. Das wichtigste sei nun, ihnen Zukunft und Lebensgrundlage zu geben, die Aufarbeitung ist ein Luxus, den sie sich eventuell später leisten können. Aus der deutschen Vergangenheit muß ich sagen, daß auch unsere Großeltern sich erstmal in den Wiederaufbau gestürzt haben, vielleicht deswegen mit so großer Energie, weil sie vieles lieber vergessen und hinter sich lassen wollten. Es war unsere Elterngeneration, die 20 Jahre später, im Zusammenhang mit der Studentenbewegung, angefangen hat, Fragen zu stellen und die alten Strukturen zu revolutionieren. Vielleicht kann man von der Täter/Opfer-Generation nicht mehr verlangen, als daß sie einfach versuchen, wieder aufzubauen und ein materiell gesichertes Leben zu führen und man sollte sie nach Kräften darin unterstützen, so wie man uns damals unterstützt hat. Doch im Gegensatz dazu ist die Unterstützung in Nord-Uganda sehr spärlich. Ob wohl hier die nächste Generation sich den Luxus leisten kann, ihre Eltern zur Rede zu stellen und die Strukturen infrage zu stellen? Konnten wir das nicht nur, weil wir uns einen materiellen und damit auch geistigen Freiraum schaffen konnten?
Betrachtungen zum Glück mit den Returnees
In Gulu wollte ich den ehemaligen Kindersoldaten oder Returnees in den von uns unterstützten Projekten Grüße aus Berlin übermitteln. Dafür hatte ich Kalender gemacht mit Bildern der GuluWalks in Gulu und Berlin. Wir fuhren auf einer löchrigen Piste 2 Stunden raus aus Gulu, erst zu einer Schule, in welcher ca. 10 Returnees zwischen 15 und 25 Unterricht bekamen. Der Unterrichtsstil gefiel mir sehr gut. Der ältere, sehr energetische Mathematiklehrer schrieb eine Aufgabe an die Tafel während gestenreicher Erklärungen und ließ dann die Schüler, die auf Bänken ohne Schuluniform saßen, rechnen. Er hatte sichtlich Spaß dabei, setzte sich neben einen und schaute sich an, was er so rechnet, lachte und gab ihm Tips. Jedes einzelne Heft schaute er an und am Ende rechnete er noch einmal mit allen gemeinsam an der Tafel. Dann wurde ich vorgestellt. Ugandaner sind furchtbar formell. Nachdem der Lehrer eine kleine Eröffnungsrede für den Besuch gehalten hatte, trug Richard noch einmal ausführlich vor, wer ich sei, wozu ich hier sei etc. etc. Ich fügte mich diesem Prozedere und dankte ebenfalls ausführlich für die Einladung. Ich erzählte, daß ich im normalen Leben Biologin wäre und an der Universität arbeite, daß ich schon lange Zeit mich für Frieden und Gewaltfreiheit engagiere und dadurch, daß ich die Uganda Community in Berlin kennengelernt habe, mitgemacht habe bei der Organisation des GuluWalks. Ich erzählte davon und vor allem, daß viele deutsche Kinder sich daran beteiligten. Dann sagte ich, daß ich ihnen gerne eine Frage stellen würde, die ihnen vielleicht sehr primitiv erscheinen würde, was sie aber überhaupt nicht sei. Große Philosophen hätten sich darüber den Kopf zerbrochen und mit Richard hätte ich auf dem ganzen langen Weg hierher bereits darüber debattiert. Es gäbe auch kein richtig oder falsch als Antwort, mich würde einfach nur interessieren, was sie dazu sagen könnten. Die Frage lautet: Was meint Ihr, braucht man, um Glück zu erlangen? Zögerlich und erst nach Aufmunterung durch den Lehrer, trauten sich einige etwas zu sagen: Gesundheit, Freunde, Ausbildung, „Dinge“. Ich fragte: Gibt es jemand, den Ihr für glücklich halten würdet? Daraufhin sagte einer: Mr…. (der Lehrer). Ich schaute ihn an und er sagte: Ja, ich glaube, ich kann sagen, daß ich glücklich bin. In erster Linie, weil ich 61 Jahre alt bin und das ist selten in Uganda. Dann, weil ich Familie habe, Kinder, die erwachsen sind und alle die Schule besucht haben und jetzt gute Arbeit haben und weil ich Land habe, das ich bebaue. Ja, ich bin glücklich. Ich war früher Lehrer, dann im Krieg war ich Soldat. Jetzt freue ich mich, daß ich wieder unterrichten kann.“
Als wir alle Stichpunkte zu Glück auf der Schultafel zusammengetragen hatten, versuchte ich zu erklären, warum die Menschen in dem Land, aus dem ich komme, zwar alles haben, was man sich materiell vorstellen kann, alles was hier fehlt: Genug essen, Wohnungen, kostenfreie Ausbildung und Gesundheitsversorgung für alle, …, aber trotzdem sind so viele nicht glücklich. Es gibt hohe Suizidraten, eine steigende Zahl psychischer Erkrankungen, auch schon von Kindern. Wichtig sei zu sehen, daß man fürs Glück nicht nur die materiellen Dinge braucht. Diese sollten die Basis sein und niemand auf dieser Welt sollte sich darüber Sorgen machen müssen, was er am nächsten Tag zu essen bekommt oder ob er einen Arzt bezahlen kann, wenn er krank wird. In unserer hochtechnologischen Welt sei es eine Schande, daß so viele Menschen immernoch so unsicher leben müssen und es hat vor allem mit einer schlechten Verteilung zu tun. Darüber hinaus aber brauchen wir andere Menschen, um glücklich zu sein. Freunde, Familie, denen wir unser Herz ausschütten können, denen wir unsere Ideen erzählen können, mit denen wir uns streiten und versöhnen können, die wir lieben und mit denen wir mitfühlen. In Deutschland sind wir zu starken Individualisten geworden, denen es schwer fällt, Beziehungen einzugehen und die zwar hart arbeiten können, die dann aber in ihrer schönen Wohnung mit Fernseher, Computer und Kühlschrank am Ende des Tages alleine sitzen und traurig werden. Ich sagte ihnen, daß ich glaube, daß wir viel voneinander lernen können und am liebsten würde ich mich mit jedem Einzelnen noch ausführlich unterhalten. Aber leider müssen wir weiter. Aber ich hoffe, einmal mit mehr Zeit wiederzukommen. Nach dieser Ansprache wirkten die Schüler etwas aufgelockerter und wir machten das obligatorische Fotoshooting und los ging es zum nächsten Training.
Dort überraschten wir ein paar Mädchen, die auf uralten Singer Nähmaschinen Papierschnitte zusammennähten. Die alten Nähmaschinen hätten den Vorteil, daß man dafür keinen Strom benötige, den es bei diesen Gebäuden ohnehin nicht gäbe und in Gulu City wird momentan jeden zweiten Tag nur der Strom angeschaltet, um zu sparen. Durch meinen Kopf huschte natürlich der Gedanke, man müsse hier einfach ein paar Solarzellen anbringen und Strom wäre kein Thema mehr. Es wäre eine so saubere und dezentrale Lösung, aber natürlich fehlt das Geld, wenn schon Schulgebühren ein unüberwindliches Problem darstellen. Wieder dasselbe Problem: wie kann man etwas zukunftsträchtiges aufbauen, wenn man gerade schafft, von Tag zu Tag zu überleben? Nun gut, so also Nähen nach der archaischen Methode, dauert zwar viel länger, aber ist weniger störungsanfällig. Die Jungs haben ein paar Mauern aufgebaut und Nelson Mandela beklagt sich, sie hätten nicht genug Werkzeug, um alle gleichzeitig zu arbeiten. Er hoffe auch, daß er nach der Ausbildung ein Startpaket bekommt, damit er seine Baufirma eröffnen kann. Später sagt mir Richard ein wenig ärgerlich, daß es die typische Haltung sei, nicht zufrieden zu sein, bereits viel bekommen zu haben, aber immernoch nach mehr zu verlangen. Sie hätten die Erfahrung gemacht, daß wenn sie den Jungs Werkzeuge geben nach der Ausbildung, sie dieses oft nur verkaufen würden und genauso schlecht dran wären wie vor dem Training. Es sei ein großes Problem, daß die Menschen, die erst in den letzten zwei Jahren aus den Flüchtlings-Camps zurückgekommen seien – oft erst nach Jahrzehnten – verlernt hätten, Land zu bestellen und auf sich allein angewiesen zu sein, keine Zukunftsplanung machen könnten. Viele verkaufen ihr Land, um schnell an Geld zu kommen, welches sie dann für sinnlose Dinge ausgeben, obwohl sie damit ihre einzige Lebensgrundlage verlieren. Ich hatte Nelson geantwortet, daß ich verstehe, daß vieles fehlt, daß ich aber auch gelernt habe in den Projekten, die ich bisher gemacht habe, daß es falsch ist, alles ohne Gegenleistung zur Verfügung zu stellen. Zuerst, weil es dann nicht wertgeschätzt wird und man damit schlecht umgeht und zum anderen, weil er sich selbst auch mehr schätzen lernt, wenn er es sich durch eigene Kraft erarbeitet hat. Es ist vielleicht das wichtigste für sie zu lernen, daß sie aus eigener Kraft etwas aufbauen können und nicht warten müssen, daß jemand kommt und es ihnen gibt. Ich hoffte mal einfach, daß er das irgendwie oder irgendwann verstehen würde, auch wenn er jetzt wahrscheinlich dachte, die Europäer seien doch ganz schön geizig. Ich spürte bei meiner Antwort ganz deutlich, daß ich überhaupt keine Lust hatte, ihm irgendwie taktisch zu antworten oder ihm auszuweichen (was ich früher vielleicht gemacht hätte), sondern ihm ganz ernsthaft meine Gedanken mitzuteilen. Ich fand, daß er eine ehrliche Antwort auf seine Frage verdient hatte. Nach solchen Unterhaltungen und ganz förmlichen Ansprachen wie vorher und meiner Frage nach dem Glück, fühlte ich hier, daß die Jungs und Mädels ganz gelöst waren und keine allzu große Scheu mehr vor mir hatten. Die junge Mutter drückte mir fürs Fotoshooting ihren zweimonatigen Säugling in den Arm, was ich als eine hohe Ehre ansah.
Katanga
Ich kam zurück nach Kampala. Arthur quartierte mich in Katanga ein. Das ist ein Stadtteil, der zwischen Mulago Hospital und Makerere Universität liegt, in einer Senke, die ursprünglich einmal Sumpfland war, die jetzt von den Ärmsten der Stadt besiedelt ist, die dort ihre dürftigen Hütten bauen. Das Krankenhaus und die Universität erheben Ansprüche auf das Gelände und auch die Regierung möchte den Slum gerne geräumt haben, was wohl früher oder später auch passieren wird. Die Frage ist dann: wohin mit den Menschen? Jedenfalls wurde bereits, um das Wohnen dort unangenehmer zu gestalten, der Grabenabfluss blockiert, so daß der Slum nun regelmäßig zur Regenzeit unter Wasser steht. Die Menschen dort gehen allen möglichen Geschäften nach. Zum Beispiel brennen sie Backsteine oder sie suchen im Müll nach Plastikflaschen oder Altmetall, das sie verkaufen können. Ich lernte Aisha kennen, die Wäsche für die Studenten wäscht und im Studentenwohnheim die Böden wischt. Weil sie das in der einzigen, im Dorf als anständig akzeptierten gebückten Haltung tut, hat sie mittlerweile starke Brust- und Rückenprobleme und hofft nur noch, daß sie lange genug lebt, um ihren fünf Kindern eine Schulbildung zu finanzieren. Mary kommt aus einem Dorf in Nord-Uganda, aus dem sie von der Familie ihres Mannes vertrieben wurde, als dieser von Rebellen getötet wurde, weil sie von einem anderen Stamm ist als er. Mit drei Kindern lebte sie erst in Kampala auf der Strasse bis jemand sie im Slum aufnahm. Ihr ältester Sohn Odongo hat ein Auge verloren und bettelt. Da er mit seinem fehlenden Auge viel erwirtschaftet für die Familie, hat er keine Zeit, zur Schule zu gehen. Trotz dessen, daß er ein liebevolles Verhältnis zu seiner Mutter und seinen Geschwistern hat, fasste er mehr und mehr bei den Straßenkindern Fuß, die häufig von zuhause abgehauen sind und von denen viele schnüffeln. Eines Tages bat er Arthur, ihm irgendwie zu helfen, denn er wolle weg von der Straße und wieder zur Schule gehen.
Arthur macht unglaubliche Projekte hier mit einer echten Vision, anders kann ich es nicht bezeichnen. Vor drei Jahren hat er angefangen, Kinder im Slum zu fotografieren und zu interviewen. Dafür hat er sich hier einquartiert, um sie besser kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Er wollte eine Ausstellung dazu machen, aber das wurde ihm untersagt. Daher organisierte er privat auf dem Dach eines nahe gelegenen Hauses eine Ausstellung mit den Bildern und Geschichten auf Stoffe gedruckt und an Wäscheleinen gehangen, wozu er die Bewohner von Katanga einlud. Als Antwort auf den zunehmenden Alkohol- und Drogenkonsum, fing er an, Tee Partys mit den Slumbewohnern zu organisieren. Tee ist ein traditionelles Getränk in Uganda und sowohl die Zubereitung als auch das gemeinsame Trinken sind ritualisiert. Den Frauen und Kindern und Männern tut es gut, daß sie bei Feuerschein am Abend zusammensitzen können, wie es vielleicht früher einmal im Dorf gewesen ist. Sie fühlen die Anerkennung und daß auch ihnen ein Platz in dieser Welt gebührt und sie können Freude empfinden, ohne großartigen materiellen Aufwand oder bewusstseinsverändernde Drogen. Aber Arthurs Ideen gehen weit über Katanga hinaus. Letztes Jahr ist er in die Sahara gegangen, um dort eine Dokumentation zu drehen. Auch dort ist er überraschend auf den Tee als gemeinschaftliches Ritual getroffen. Danach ist er nach Europa und trotzdessen, daß er das erste Mal dort war, hat er ohne Scheu direkt angefangen, ein Projekt nach dem anderen zu entwickeln, die alle eine mystische, eine menschenliebende-menschenverbindende und eine künstlerische Komponente haben. Ein Beispiel: Den Tee möchte er nun an die Kurfürstenstraße – der bekannten Drogen- und Prostituiertenszenenmeile in Berlin – bringen. In diesem Projekt „TEAthmosphere“, das er zusammen mit der Galerie Listros plant, soll u.a. auch eine Tee Party auf der Straße mit den Prostituierten und Junkies und allen anderen etc. stattfinden. Er hat dafür mit vielen geredet und sie gebeten, Tee auszuschenken, was den Dealern und Prostituierten eine neue Erfahrung des Gebens bereiten könnte. Ich war von diesen Erzählungen bereits sehr fasziniert, allerdings noch mehr, nachdem Arthur mir seine bisherige Lebensgeschichte erzählte, die ich hier nicht einfach so ausplaudern kann. Nur so weit: er hat es tatsächlich aus dem nichts und gegen tausend widrige Umstände geschafft, in einem Land, in dem die kreative Kunst eher abgewertet ist (als Kunst wird hier normalerweise das Schnitzen von Masken für Touristen angesehen), eine solche innere Kraft und Inspiration zu entwickeln, die ihn jetzt überall hinbringt und mit den tollsten Menschen zusammenführt. Für mich ist er das Beispiel überhaupt, daß es Dich zu ungeahnten Gefilden bringt, wenn Du nur auf Deine innere Stimme hörst.
Den letzten Abend verbrachten wir auf dem Flachdach in Katanga. Mein Flug ging erst mitten in der Nacht. Wir redeten bis Rodger eingeschlafen war und als ich ebenfalls kaum noch Worte hervorbrachte, rollte ich mich auch zusammen. Arthur hatte sein Laptop vor sich, der blaue Schein erleuchtete sein Gesicht. Der weite Himmel war rotschwarz von der Dämmerung oder dem Schein der Stadt und der Mond wurde von Wolken umrahmt. Die Geräusche der Straße waren gedämpft und in die Wärme vom Beton mischte sich das Zirpen von irgendeiner extrem lauten ugandanischen Grillenart. Ich war selten so entspannt.
Was also habe ich gelernt über das Glück?
Getroffen habe ich den nihilistischen Materialisten genauso wie sehr religiöse Menschen. Unterhalten habe ich mich über das Materielle und Menschenrechte als absolute Grundlage, über Herausforderungen, die man braucht, über zu viele Pflichten, die einen unfrei machen, über tiefe spirituelle Empfindungen, über Gefühle für andere – Liebe, Hingabe, Mitgefühl – die jeder nötig hat, Gemeinschaft, mit Menschen lachen, diskutieren, streiten… Aber vor allem haben mich diejenigen beeindruckt, die einen tiefen Kontakt zu sich selbst haben und bei denen ich spürte, daß sie in jedem Moment das Wahrhaftige und Schöne und Gute anstreben. Bei ihnen vervielfältigt sich das Glück und strahlt in ihre Umgebung aus und sie können durch nichts aufgehalten werden. Von ihnen habe ich am meisten gelernt.