10. Koloss im Nebel

Mit seinem epochalen Gedicht-Zyklus “Variation auf kein Thema” gab er in seinem Gedichtband “Falten und Fallen” (1994) die entscheidenden Takte vor für seinen “Biologischen Walzer”, der ein paar Jahre lang zum Gradmesser für avancierte Dichtkunst wurde. Bereits mit 33 Jahren wurde Durs Grünbein 1995 mit dem Büchner-Preis bekränzt und im gleichen Atemzug zum lyrischen “Götterliebling” ausgerufen. Danach folgte die historizistische Wende in seinem Werk, die Rückbesinnung auf die Geisteswelt der römischen Antike. Beim Versuch, “einige Atemlängen zwischen Antike und X” auszumessen, entschied sich der zuvor so gegenwartsversessene Autor für den Rückmarsch in die Bewusstseinsformen des römischen Stoizismus. Die Abgeklärtheit des Philosophen Seneca und der grimmige Sarkasmus des römischen Satirikers Juvenal adoptierte Grünbein dabei als philosophischen Universalschlüssel für die Beobachtung der Gegenwart. Die literarischen Früchte dieser Rom-Nostalgie bespöttelte sein früh gestorbener Antipode Thomas Kling als “Sandalenfilme aus den Grünbein-Studios”.Die bildungstouristisch aufgepolsterte Antike führte den Dichter im Huldigungs-Opus an Rom (“Aroma”, 2010) an einen literarischen Tiefpunkt.

Nun taucht der “Koloss im Nebel” auf. Der Titel seines umfangreichen Gedichtwerks verheißt die neuerliche Erscheinung einer antiken Großmetapher. Denn dieser Koloss von Rhodos, den das Titelgedicht des neuen Bandes bei einer Fahrt durch die Inselwelt der Ägäis passiert, gibt wieder Anlass zur antikisierenden Grübelei. Wer indes die sieben Abteilungen des Buches aufmerksam studiert, wird nicht nur Beispiele für Bildungsbeflissenheit finden, sondern auch bewundernswerte Exempel einer großen ästhetischen Einbildungskraft. Noch immer ist da die Eleganz der Blankverse und Hexameter, mit denen Grünbein den Versfluss zu organisieren weiß. Grünbein hat ein sicheres Gespür für die gebundene Rede, nicht zufällig hat er einmal seine Dichtung als “Philosophie in Metren” definiert. / Michael Braun, Badische Zeitung

Durs Grünbein: Koloss im Nebel. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 230 Seiten, 26,90 Euro. Lesung: Der Autor liest am 7. November um 20 Uhr im Wintererfoyer des Freiburger Theaters. Die Moderation übernimmt BZ- Redakteurin Bettina Schulte.



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