Heute vor 10 Jahren lag ich auf der Intensivstation, meine Mutter saß neben mir und hat mein Händchen gehalten.
Ich sehe diese Blogeintrag jetzt als Chance, wieder ein Stückchen mehr von meiner Geschichte abzuwerfen, die mich schon jahrelang verfolgt und mich immer wieder eingeholt hat. Mit Abwerfen meine ich die Art Verarbeitung, die ich immer noch nötig habe, denn ich hoffe, dass ich irgendwann daran zurückdenken kann, ohne Tränen in den Augen zu haben.
In mir war also der Wunsch, an diesem besonderen Datum mit euch meine Geschichte zu teilen. Dieser Wunsch war schon sehr lange da, aber ich habe mich bisher nicht dazu bringen können wirklich anzufangen. Und Unterbewusst gab es immer noch diesen Schutzmechanismus, der mich bloß davon abhalten wollte, mich damit genauer auseinanderzusetzen. Der erste Schritt ist aber schon mit den ersten Worten getan und darüber bin ich froh.
Alles fing zu Beginn von 2002 an. Ich wusste, dass mit mir was nicht stimmt, aber irgendwie habe ich gehofft, dass es sich mit der Zeit legen wird. Meinen Eltern habe ich nichts gesagt, ich wollte sie nicht verrückt machen. Mir fielen Wörter nicht ein, das Sprechen fiel mir schwer, weil meine Zunge einfach so schwer wurde und manchmal, wenn ich die Augen zumachte, drehte sich alles. In der Schule war ich zwar nie der Überflieger, aber in dieser Zeit fiel mir alles, vom Auswendiglernen bis zur Konzentrieren, viel schwerer als sonst.
Ich weiß noch ganz genau, dass ich am 14.2.2002 die erste Stunde des Mofa-Kurs hatte, das war ein Donnerstag. Wir mussten nach der Einweisung ja ewig im Kreis rumfahren und danach war mir so unglaublich schlecht. Am Abend habe ich dann meiner Mutter von dem Ganzen erzählt und sie meinte, dass ich am nächsten Morgen unbedingt zum Arzt gehen sollte. Der nächste Tag fing ganz schlimm an. Ich musste mich ständig übergeben, mein Hausarzt vermutete einen Virus und überwies mich noch zu meinem HNO-Arzt, da ich ihm auch von meinem Schwindel erzählt habe (er hatte auch auf eine Mittelohrentzündung getippt). An dem Morgen war es aber nicht nur der allseitsbekannte Schwindel, sondern schon eine Gleichgewichtsstörung, da ich mich in der Nacht an der Wand entlang hangeln musste, um überhaupt auf die Toilette zu kommen. Mich hat es quasi nach links gezogen, obwohl ich geradeaus gehen wollte. Der HNO-Arzt konnte nichts feststellen und ich bin mit meinem Eltern dann wieder zum Hausarzt gegangen, um den Befund zu hinterlegen. Der Arzt meinte, dass, wenn es nicht besser wird, ich ins Krankenhaus fahren sollte.
Den ganzen Freitag habe ich also nur gekotzt, gefaselt, geheult und konnte noch nicht mal in Ruhe im Bett liegen, weil sich einfach alles gedreht hat. Am nächsten Tag sind wir also ins Krankenhaus gefahren. Ich wurde durchgecheckt und sofort auf einer Station aufgenommen. Da das Klinikum gar nicht weit weg ist, ist meine Mutter noch schnell ein paar Sachen für mich holen gegangen. Ich bin auf ein Zimmer mit fünf anderen Jugendlichen gewesen und es war dementsprechend laut und unerträglich. Zum Glück wurde ich direkt zur Computertomographie abgeholt. Danach wurde ich nicht auf das Zimmer zurückgebracht, sondern bekam direkt ein Einzelzimmer. Meine Mutter war in der Zeit wieder da, und ich war froh, dass ich jemanden an meiner Seite hatte. Die Tür ging auf und der Arzt bat meine Mutter in einen Besprechungsraum. „Frau - , wir müssen was besprechen.“. Da saß ich also, war ganz ruhig und die zwei Minuten allein fühlten sich wie eine Ewigkeit an. Die Tür ging auf und der Arzt kam zu mir und stützte mich während wir in den Besprechungsraum gingen, wo meine Mutter wartete. Meine Mutter habe ich in diesem Moment noch nie so gesehen. Aufgelöst, aber trotzdem ruhig. Da hing der Arzt ein Bild von der CT auf und man sah, das etwas Komisches auf dem Bild war. Das sah sogar ich. „Schau mal, dieses 2cm große Gebilde da in deinem Kopf gehört nicht in deinen Kopf. Wir können nicht sagen, was es ist, aber...“.
Von da hab ich nichts mehr mitbekommen. Alles ging schnell und zur besseren Versorgung wurde ich in die Kölner Uniklinik gebracht, in die Kinderonkologie. Ich kann mich nur noch an diesen Krankenwagen erinnern, der mich so schnell wie möglich dorthin gebracht hat, und meine Mutter, die weinend neben mir saß.
Onkologie. Kinderonkologie. In dem Moment, als ich das Wort das erste Mal in meinem Leben gelesen habe, habe ich gespürt, dass es nichts Gutes ist.
Ca. 2 Wochen hat es bis zu der Operation gebraucht. Es war nötig mich mit Kortison vollzupumpen, damit der Druck in meinem Kopf abnimmt und die OP angesetzt werden konnte. Ich kann mich noch erinnern, dass ich unglaublich viel Appetit hatte und schon Abends darüber philosophiert habe, was ich dann zum Frühstück essen wollte ;)
Diese zwei Wochen sind mir immer nur in „Fetzen“ in Erinnerung geblieben. Es wurde erstmal gesagt, dass ich ein Hämangiom im Kleinhirn habe. Also einen Tumor, der auf mein motorisches Zentrum drück und ich mich deswegen weder Artikulieren, geschweige denn noch geradeaus laufen konnte. Irgendwie war es zwar schrecklich, aber auch beruhigend, da ich jetzt den Übeltäter meiner ganzen Probleme kannte. Know your enemy. Bis zu der OP habe ich immer wieder auf verschiedenen Zimmer mit verschiedenen Kinder gelegen. Ich war die Älteste auf der Kinderonkologie und alle auf der Station hatten einen bösartigen Krebs und waren dementsprechend schon kahl wegen der Chemotherapie. Alles war unwirklich.
Meine Mutter durfte unter der Woche bei mir bleiben, zwar nicht auf meinem Zimmer schlafen, aber im Spielzimmer der Station übernachten. Sie hätte auch in einem anderen Gebäude, dem Elternhaus, übernachten können, aber sie wich mir nie von der Seite. Über das Wochenende ist mein Vater da gewesen, meine Mutter war dann zu Hause und hat meine Wäsche gewaschen. Ich war nie alleine und das war die schönste Kraft, die mir meine Familie geben konnte. Die Ärzte waren alle sehr lieb zu mir und die Schwestern sowieso.
Das Wochenende vor der schweren Operation durfte ich nach Hause. Es kamen ein paar Klassenkameraden vorbei und ich kann mich sehr genau daran erinnern, dass ich mich vor dem Treffen ins Bad gestellt habe und mir gesagt habe, dass ich mich jetzt schminke. Einfach um mich selbst besser zu fühlen, um mir mehr Kraft zu geben. Zu der Zeit sah ich schlimm aus. Mein Gesicht war durch die Medikamente aufgedunsen und hübsch fand ich mich überhaupt nicht. Aber das ist auch das Letzte woran man dann denkt. Das Einzige, worauf ich stolz war, waren meine Haare. Sie waren so schön lang und es war sehr schlimm für mich, dass mir gesagt wurde, das sie bei der OP ab kommen. Also habe ich mich an dem Wochenende noch an ein paar Frisuren versucht, als Abschied von meinen schönen Haaren. Aus dem Haus durfte ich auch, aber da ich nicht richtig laufen konnte (es war unglaublich anstrengend gegen diesen Links-Drang zu laufen), konnte ich mir das vorerst abschminken. Aber genau deswegen hat meine Mutter einen Rollstuhl organisiert und mich ein wenig rumgefahren.
Ich weiß nicht, ob das gut war. Ich fühlte mich so schwer krank, war ich natürlich auch, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. In meinem Kopf war ich immer noch gesund wie eh und je. Ich habe mich zwar auf die Spaziergänge gefreut, aber im Nachhinein war ich froh, wenn wir wieder zu Hause waren. Meine Mutter auch.
Die OP war an dem 5.3.2002, einem Dienstag, angesetzt. Heute vor 10 Jahren. Vorher hatte ich noch Zeit mich darauf vorzubereiten. Ärzte sprachen mit mir, aber das hatte mir alles nicht viel gebracht. Natürlich war ich aufgeregt, denn erst wenn der Tumor aus meinem Kopf ist kann gesagt werden, ob er gutartig oder bösartig ist. An „bösartig“ und folgende Chemos wollte ich nicht denken. „Ist es sowieso nicht.“ Das war immer der Satz, der mir in Endlosschleife durch den Kopf ging. Das wohl „Schönste“ zu dieser Zeit war eine Studentin, die ihr Praktikum auf meiner Station machte. Sie hatte sich die Tage immer zu mir gesetzt, denn sie war bei meiner Operation mit eingeteilt. Sie wollte mir alles erzählen, wie es war, wenn ich es hören wollte. Sie hat mir wenigstens keine Fachbegriffe vor den Kopf geworfen und hat mir alles ein bisschen verständlicher erklärt, auch wie die OP überhaupt ablaufen wird.
Zur Beruhigung bekam ich Tropfen und redete mir ein, dass bald alles vorbei ist. Die OP hat mehrere Stunden gedauert und ich erinnere mich nur noch an den Raum, in dem ich aufgewacht bin.
Es war auf der Intensivstation: alles eklig weiß und grau und links oben war die Uhr, die sich manchmal schnell und manchmal langsam bewegte. Mein Kopf dröhnte und irgendwann durfte ich wieder auf meine Station. In der ersten Visite nach der OP sagte der Arzt, dass der Tumor gutartig war und vollkommen entfernt wurde. Da hab ich sogar mitbekommen, dass mich der Oberarzt und Leiter der Station operiert hat. Ich lag in der Zeit ständig am Tropf, mein Kopf war komplett eingepackt in Mullbinden und hat gedröhnt. Man muss sich vorstellen, dass man, um an den Tumor zu kommen, erstmal die Schädeldecke ansägen musste. Das war etwas, was ich mir auch jetzt im Nachhinein nie vorstellen kann und will.
Auch die wachsenden Haare an der Narbe am Hinterkopf, die ungefähr 10 cm lang war (und ist), haben gejuckt. Irgendwann war dann der Tag, an dem die Fäden gezogen wurden. Als ich danach das erste Mal ohne „Kopfverpackung“ ins Bad gegangen bin, habe ich mehrere Minuten nur geweint. Aber das war alles nur vor Freunde, weil meine langen Haare noch da waren und die Ärzte mir wirklich nur rund um die Narbe die Haare wegrasiert haben. Man konnte also, wenn ich meine Haare offen trug, nichts sehen. In diesem Weinkrampf ist so einiges von mir abgefallen. Alles ist wieder ein bisschen realer geworden, da ich mich wieder im Spiegel erkennen konnte. Ich sah aus wie vorher.
Das Ganze hat mich natürlich auch von den anderen Patienten abgegrenzt, was mir unheimlich gut getan hat. Wie schon gesagt, alle auf meiner Station waren schwer- bzw. unheilbar krank. Dadurch, dass alle anderen Kinder auf der Station jünger waren, habe ich mich irgendwie für sie verantwortlich gefühlt. Das jüngste Kind war mit 6 Monaten Venna, eine so süße kleine Maus. Und alle dem Tod so nah. Ich fragte mich jetzt immer noch, warum ich das Glück hatte und sie nicht. Und in dem Moment fühlte ich mich auch schlecht. Es ist alles sehr schwer zu erklären.
Nach der OP habe ich auch endlich wieder „zugelassen“, dass ich Besuch bekomme. Ich konnte vorher einfach mit niemandem reden, habe mich geschämt und wollte auch keinen Besuch, der mich so sieht. Ich weiß, dass es Leute gab, die mir das übel genommen haben, aber es waren auch viele, die mir Zeit gegeben haben und auf mein „Go!“ gewartet haben. Ich kann mich noch an den Besuch meiner Familie mit meiner Nichte erinnern. Sie saß bei mir auf dem Bett und ich habe sie auch rumgetragen. Da war es mir egal, dass mir immer noch schwindelig war. Meine Nichte war und ist der Sonnenschein in meinem Leben. Ich hatte auf der Station auch eine Lehrerin und eine Therapeutin, die mir wieder das Laufen und das Gleichgewicht-Halten beigebracht hat. Als ich das erste mal wieder Treppen steigen konnte bin ich fast vor Freunde und Stolz ausgeflippt.
Das schlimmste war für mich, dass ich nicht mehr Musik machen konnte. Meine Finger wollten sowieso nicht wie ich wollte und Klavier (habe ich mit 5 angefangen) und Querflöte spielen waren für mich gestrichen. Im Spielzimmer war ein Keyboard, an das ich mich aber nicht getraut habe. Irgendwann hat mich mein „Lieblingsarzt“ beobachtet und ist zu mir gekommen und hat mir was vorgespielt. Er hat mir versprochen, dass ich nach und nach wieder spielen kann, ich bräuchte nur Geduld. Nachdem alles wieder bergauf ging, war das mit dem Geduld-Haben gar nicht so einfach.
Irgendwann war dann der Moment, an dem mir gesagt wurde, dass ich bald die Station verlassen könnte. Kurz bevor ich endlich nach Hause sollte, wurde ich noch mal durchgecheckt und mir wurde letztendlich ein dicker fetter Strich durch die Rechnung gemacht. Mit meinem Blut stimmte was nicht, von Gerinnungsstörungen und Thrombose war die Rede. Ab sofort musste ich mir Heparin spritzen, damit das Blut flüssiger gemacht wird (nach dem Ganzen musste ich mich noch 2 Jahre 2x am Tag regelmäßig spritzen, das war ätzend!). Ich wurde dann wieder an den Tropf gelegt und musste abwarten, wann ich endlich wieder nach Hause durfte. Ich glaube, dass ich nach diesem Rückschlag noch zwei weitere Wochen dableiben musste. Jeder Tag war ein Tag zu lang und ich konnte einfach alles nicht mehr aushalten. Ich war geheilt, aber niemanden um mich herum ging es genau so.
Irgendwann war es soweit: ich saß mit gepackten Koffern auf dem Gang um so schnell wie möglich aus dieser Station zu stürmen. Eine Station, über der das Damokleschwert sehr tief hängt. Ich bin dem ganz schnell wieder entkommen, aber habe einen Knacks fürs Leben mitgenommen, auch mit Therapie und allem was dazu gehört.
Und jetzt feiere ich das zehnte Mal meinen 2.ten Geburtstag. Heute Abend wird meine Familie und ich zusammensitzen, Essen bestellen und unser Happy End feiern. Genauso, wie ich es mit diesem Blogeintrag getan habe. Beim Schreiben des Textes kamen mir oft die Tränen, aber komischerweise nur bei den positiven Sachen, vor Freude. Meine Haare waren noch dran, ich konnte meine kleine Nichte knuddeln, ich war unglaublich gefräßig, ich war nie alleine. Alles ist gut ausgegangen, wie im Film. Ich habe mein Abitur gemacht, studiert und unterrichte jetzt das, was ich mit 15 neu erlernen musste.
Jetzt kann ich durchatmen und habe alles noch mal im Kopf durchlebt. Etwas, worum ich vielleicht einmal zu viel einen Bogen drum gemacht habe. Aber wer setzt sich mit Schicksalsschlägen gerne auseinander?
Man sagt ja, dass Zeit alle Wunden heilt. Aber leider darf man trotzdem nicht nur die passive Rolle übernehmen, sondern aktiv daran arbeiten um alles zu verarbeiten.
Ich hoffe, ihr nehmt mir den langen, schweren und emotionalen Text nicht übel, der sich natürlich von allen anderen Blogeinträgen abhebt. Für mich ist es eine Art Befreiung und je öfter ich diesen Text durchlese, desto gefasster und sicherer und stärker werde ich.
Ich bin froh wie es alles war und ist und es gehört einfach zu mir.
Danke an alle, die mich in dieser Zeit unterstützt haben, mich jetzt noch unterstützen und mein Leben lebenswert machen.
Und danke an euch, die ihr nun meine Geschichte kennt, die mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin.