Vor zehn Jahren, am 3. Mai 2007, ist an der Südküste Portugals ein paradiesischer Urlaubsort für eine britische Familie zum Schauplatz einer fürchterlichen Tragödie geworden: Praia da Luz. Denn das Arzt-Ehepaar Kate und Gerry McCann machte um 22 Uhr abends die tragische Entdeckung, dass seine damals fast vierjährige Tochter Madeleine spurlos verschwunden war – aus dem Appartement ihrer Ferienanlage in der Nähe des Strandes. Bis heute ist das Mädchen, das bald 14 ist (oder würde) und dessen große Kinder-Kulleraugen mit dem besonderen Merkmal im rechten Auge auf Fotos in aller Welt zu sehen waren, nicht wieder aufgetaucht. Und dies, obwohl die Fahndungsmaßnahmen einen hohen Millionenbetrag verschlungen haben. Für die heute 48-jährigen Eltern aus dem Ort Rothley in der mittelenglischen Grafschaft Leicestershire bleibt das ein belastender Alptraum. Für viele Boulevard-Medien hingegen – vor allem britische – ist der Fall seitdem ein „gefundenes Fressen“, das bis heute unappetitliche Züge behalten hat.
Der Algarve-Entdecker hat vor Ort recherchiert: Wie hat sich die ganze Aufregung um das Verschwinden von „Maddie“ McCann damals auf den Ort, auf das Verhältnis von Residenten und Urlaubern ausgewirkt? Warum geriet eine Deutsche ins Visier der Fahnder? Wie geht man in der Region heute mit dem Geschehen um?
Praia da Luz: Hier wohnten die McCanns im Ocean Club – in dem Eck-Appartement im Hochparterre rechts unten. Die Eingangstür liegt zum Parkplatz auf der Rückseite. Foto: Hans-Joachim Allgaier
Der Fall hat praktisch die ganze Welt interessiert, aber auch reichlich verwirrt. Wir fragen: Warum kam nach dem Vorfall in Praia da Luz so wenig Licht ins Dunkel? Und wie sieht es derzeit im mehr als achtjährigen Rechtsstreit zwischen den Eltern McCann und dem damaligen Chef-Ermittler an der Algarve, Kriminalinspektor Gonçalvo Amaral, aus?
Besteht überhaupt noch Hoffnung, Maddie lebend aufzufinden? Gibt es andere Fälle in der Welt, die nach mehr als 10 Jahren Zeit des Verschwindens von Kindern gut ausgingen? Womit wird man zum 10. Jahrestag des Verschwindens von Maddie gegebenenfalls rechnen müssen? Worauf stellt man sich vor Ort an der Algarve ein?
Der Algarve-Entdecker bemüht sich derzeit, einige Antworten auf diese Fragen zu finden. Hier zunächst ein chronologischer Überblick über die Ereignisse, die Millionen von Menschen in aller Welt bis heute berühren.
Wie alles geschah
Hinter dieser Tür wohnten die McCanns. Foto: privat
3. Mai 2007: Das fast vierjährige britische Kind „Maddie“ McCann verschwindet am Abend aus der Ferienanlage Ocean Club im portugiesischen Küstenort Praia da Luz an der Algarve. Seine Eltern Kate und Gerry, ein Ärzte-Ehepaar, waren zum Essen mit Freunden in eine nahe gelegene Tapas-Bar gegangen. Sie hatten Maddie mit ihren zweijährigen Zwillings-Geschwistern Amelie und Sean schlafend im Appartement 5 A zurückgelassen. Eine Kinderbetreuung, die der Ocean Club anbot, war nicht in Anspruch genommen worden.
Parkplatz vor dem Appartement der McCanns. Foto: Hans-Joachim Allgaier
7. Mai 2007: Die Eltern wenden sich über Medien an die Öffentlichkeit, Mutter Kate bittet im britischen Fernsehen mögliche Entführer darum, die Tochter freizulassen. Fotos des blonden Mädchens mit den besonders großen Kulleraugen und dem unveränderlichen Merkmal im rechten Auge gehen um die Welt.
Wenig später rufen bekannte Fußballer wie Cristiano Ronaldo und David Beckham zur Unterstützung bei der Suche auf. Ihr Kollege Wayne Rooney und Schriftstellerin Joanne K. Rowling („Harry Potter“) erhöhen die ausgesetzte Belohnung auf mehrere Millionen Euro.
15. Mai 2007: Ein an der Algarve lebender Brite gerät, zusammen mit einer deutschstämmigen Lebensgefährtin, unter Verdacht der Polizei, die Vorwürfe werden aber bestritten. Eine Hausdurchsuchung bleibt ergebnislos.
Hier spielte Maddie im Ocean Club. Foto: Hans-Joachim Allgaier
24. Mai 2007: Auf britischen Druck hin veröffentlicht die portugiesische Polizei die Beschreibung eines Mannes, der kurz vor dem Entdecken des Verschwindens von Maddie dabei gesehen worden sein soll, wie er vom Appartement kommend eilig ein Kind weggetragen habe.
Irische Touristen geben später ebenfalls an, einen Mann auf einem Weg zum Strand gesehen zu haben.
29. Mai 2007: Papst Benedikt XVI. empfängt am Rande einer Generalaudienz die römisch-katholische Kate McCann und ihren Mann Gerry; er segnet die Eltern und ein Foto ihrer vermissten Tochter. Die McCanns reisen auch nach Deutschland, in die Niederlande, nach Spanien und Marokko, um dort die Aufmerksamkeit für die Suche nach ihrer Tochter zu erhöhen. Sie erbitten die Freigabe privater Urlaubsfotos aus Praia da Luz in der Hoffnung, so mögliche Verdächtige identifizieren zu können.
Verdacht gegen die Eltern
August 2007: Laut Medienberichten sollen speziell trainierte Polizeihunde im Appartement der McCanns Spuren entdeckt haben. Ob die Tochter dort gestorben sein könnte oder die Spuren eine andere Ursache haben, bleibt unklar. Später wird ebenso bekannt, dass Spürhunde auch in einem von Kate McCann am 28. Mai gemieteten Wagen Spuren gefunden hätten. Portugiesische Ermittler halten es nicht für ausgeschlossen, dass Madeleine in der Wohnung ums Leben gekommen ist. Das Interesse der Fahnder konzentriert sich auf die McCanns und ihren begleitenden Freundeskreis.
September 2007: Die portugiesische Polizei stuft die Eltern offiziell als „arguidos“ (Verdächtige) ein. Der amtierende Chef-Ermittler Gonçalo Amaral vermutet, dass es ein tragischer Unglücksfall gewesen sein könnte und McCanns zur Vertuschung eine Entführung vorgetäuscht und die Leiche später hätten verschwinden lassen. Britische Kollegen glauben hingegen eher zum Beispiel an eine Tötung bei einem fehlgeschlagenen Einbruchsversuch. Anfang Oktober wird Amaral nach Kritik an der britischen Polizei von seinen Aufgaben entbunden.
Auf dem Marktplatz hinter dem Ocean Club und neben dem Supermarkt war der Stand der Ermittlungen stets Tagesgespräch in Praia da Luz. Foto: Hans-Joachim Allgaier
Auf Anregung der Regierung in London bekommt die Familie McCann einen Medienberater und Pressesprecher; der frühere BBC-Journalist Clarence Mitchell übernimmt diese Aufgabe. Die Familie richtet auch einen „Find Madeleine“-Hilfsfonds ein und setzt zusätzlich Privatdetektive auf den Fall an.
Eltern und andere nicht mehr verdächtigt
Juli 2008: Da sie keine Beweise für ein Verbrechen finden konnte, stellt die portugiesische Polizei ihre Ermittlungen zunächst ein, legt den Fall aber nicht zu den Akten. Sämtliche Verdächtige, also auch Kate und Gerry McCann, werden formaljuristisch entlastet. Ex-Ermittler Amaral veröffentlicht umgehend ein auf Portugiesisch geschriebenes Buch über seine These unter dem Titel „A Verdade da Mentira“ – übersetzt etwa: Die Wahrheit der Lüge. Die Eltern verklagen daraufhin Amaral wegen Verleumdung. Zunächst mit Erfolg: Ein Gericht verbietet den Verkauf des Buchs in Portugal.
Mai 2009: In einer US-Talkshow der bekannten Moderatorin Oprah Winfrey flehen McCanns zwei Jahre nach Verschwinden ihrer Tochter mögliche Entführer um Freilassung an.
März 2010: Die McCanns verlangen Einsicht in Ermittlungs-Unterlagen, welche die portugiesischen Ermittler ihnen bislang vorenthalten haben sollen.
Mai 2011: Mutter Kate McCann veröffentlicht das Buch „Madeleine“ mit ihrer Version der Geschichte. Darin beschreibt sie unter anderem ihre Qualen und Zerrissenheit nach dem Verschwinden ihrer Tochter, das sie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht habe. Premierminister David Cameron und Innenministerin Theresa May lassen nach Bitten der McCanns die britische Polizei den Fall erneut von Grund auf untersuchen; die „Operation Grange“ kommt in Gang.
Screenshot der Website Findmadeleine.com, die es auch in deutscher Sprachversion gibt.
Kriminallfall-Analytikerin unterstützt indirekt portugiesischen Ex-Chefermittler
Juli 2011: Die Kriminalfall-Analytikerin Pat Brown veröffentlicht ihr Buch „Profile of the Disappearance of Madeleine McCann“. Darin betont sie nach Auswertung der verfügbaren Informationen, dass es für die These einer Entführung von Maddie keinerlei Beweise gebe.
April 2012: Die britische Polizei äußert die Vermutung, dass Maddie noch am Leben sei und veröffentlicht Bilder dazu, wie die beim Verschwinden fast Vierjährige aktuell aussehen könnte.
Juli 2013: Bei ihrer neu aufgerollten Untersuchung identifiziert die britische Polizei nach eigenen Angaben 38 „Personen von Interesse“.
Screenshot der Website von „Crimewatch“, dem BBC-Pendant zur ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY… ungelöst“
Oktober 2013: Die britische Polizei wertet tausende von Handydaten aus. Maddies Eltern schöpfen wieder Hoffnung, auch nachdem in der BBC-Sendung „Crimewatch“ elektronisch angefertigte Bilder und Skizzen der Gesichter von Personen gezeigt werden, die in und außerhalb der Ferienanlage aufgefallen waren. Doch unter den hunderten von Hinweisen, die eingehen, sind keine, welche die Polizei weiterbringen könnten.
Juni 2014: Britische Polizisten suchen mit portugiesischer Unterstützung durch Grabungen an drei Stellen in Praia da Luz nach weiteren oder neuen Hinweisen – ohne verwertbare zu finden.
Dezember 2014: Erneute Befragung von elf Personen, darunter der frühere britische Verdächtige und seine deutschstämmige Frau durch britische Polizisten auf einem Polizeirevier in Faro. Die Befragten werden ausdrücklich als „nicht unter Verdacht stehend“ bezeichnet.
Eltern vor Gericht unterlegen
April 2016: Ein portugiesisches Berufungsgericht hebt das von einer Vorinstanz erlassene Verkaufsverbot für das Buch von Ex-Chefermittler Amaral auf und erklärt, seine Thesen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt und verletzten nicht die Rechte der McCanns. Die Eltern halten den Verleumdungsvorwurf jedoch aufrecht und klagen weiter auf Schadensersatz in Höhe von 500.000 Euro, um die weitere Suche nach Maddie finanzieren zu können, wie sie sagen. Ende August trennen sich die McCanns von ihrem Pressesprecher.
Ein britischer Senior beginnt am Schauplatz in Praia da Luz damit, einen als „Luz Challenge“ bezeichneten Rundgang zu den Stätten anzubieten, die im Fall Maddie McCann eine Rolle gespielt haben. Dazu gehört auch die nahe gelegene Kirche, für die die Eltern einen Schlüssel erhalten hatten, um dort jederzeit beten zu können. Die gruselige Tour ist gratis, der alte Mann will anonym bleiben.
Februar 2017: Das oberste Gericht in Lissabon weist die Klage des Ehepaars McCann gegen Amaral ab. Dieser lässt durchsickern, er wolle ein weiteres Buch zum Fall veröffentlichen, diesmal auch in englischer Sprache. Für diesen Fall drohen die Anwälte der Eltern vorsorglich mit einer Klage.
Trauriges Fazit
Traurige Bilanz des zehnjährigen Bemühens um das Auffinden von Maddie: Unmittelbar vor dem Jahrestag des Verschwindens hat die deutlich mehr als 12 Millionen Euro teure Suche im Rahmen der britischen „Operation Grange“ und vor Ort an der Algarve noch immer nicht zu einem Erfolg geführt.
Der Algarve-Entdecker wird versuchen, in weiteren Berichten auf einige der oben angesprochenen Fragen Antworten zu finden.