10 Dinge (plus eins) zum Verschenken. Die Shortlist des Flaneurs. Teil 2 von 2

Von Derdigitaleflaneur
Wer bislang versuchte sich dem, durch wilde Kampagnen angeheizten, Konsumtreiben zu entziehen, den will ich beglückwünschen. Wer aber jetzt wie ich Zwangseuphorieverweigerer zuhause hockt und noch keine Geschenke gehortet hat, der kann nun nur zwischen zwei Übeln wählen.
Entweder setzt man sich  in den nächsten Tagen einem umsatzorientierten Beratungsirrsinn aus oder man wählt die elegante Lösung für seine Bevorratungsprobleme  und guckt sich aus dieser Shortlist einfach ein (zwei,drei) Dinge aus, die jedermensch braucht. 
Und Muttern, Vati, Brüderchen, Schwesternherz, Freund oder Geliebte freuen sich mal über verführerisch kluge Geschenke. Teil 2 von 2 heute hier bei eurer beratungsmächtigen Fachkraft :D.
Links findet ihr unter den Hashtags.
Diverse - Das Ox-Kochbuch #04 [Ventil Verlag] 

Es gibt ja immer wieder (oder immer noch) diese Mamis & Papis, die auch anno 2010 (!!!) völlig ungläubig staunend an Weihnachten vor sich hin murmeln: Wie du isst kein Fleisch!?! Sowas ist doch ungesund! Lassen wir sie mal reden, oder? Nee! Wir befreien sie aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit & becircen sie parallel noch mit Punkrockcharme.
Das gute OX, eines der allerliebsten Fanzines dieses Landes, veröffentlicht seit einigen Jahren formvollendete vegetarisch/vegane Ernährungsbibeln mitsamt prima Musikempfehlungen fürs Mahl. Will heissen: Frau Mama weiss' nun endlich auch genau, welchen Punkrockklassiker sie für den Tofubraten entmotten sollte. 
Aber auch ohne die Hingezogenheit zu Vierakkordorgien und auch für Menschen, die gerne mal ein Scheibchen Schinken naschen, sind diese humorvollen Kochbücher, die ohne viel Schnickschnack (und vorallem ohne völlig überzogen hochpreisige Zutaten) auskommen superb. #04 gibst jetzt sogar in Farbe! #PimpYourParents
The Unlimiters - The Unlimiters [Highscore Publishing]

Berlin. Stadt der Elektronauten. Hochburg der Minimalisten. Und doch widersetzen sich hier mutige Rebellen der Vorherrschaft des gnadenlosen Technoimperium. The Unlimiters sind vielleicht nicht die Schönsten im örtlichen Widerstand, aber dafür die Charmantesten. Diese livegeprüfte 2Tone-Überkapelle macht einfach nur beste Laune, groovt wie ein Mastschwein on Dope und sollte eigentlich von jedem, der lautstark rumposaunt, dass er ska-affin sei, gekannt werden.
Warum? Nun, wir haben hier eine Bläsersektion, die ihresgleichen sucht, verdammt geile Melodien, die die nutzlos herumstehenden Beine janz fix nervös machen und viel viel Soul! Kurz gesagt: Schönster Skinheadreggae der 60er trifft auf Surfriffs und Beatbreaks und ein Sänger und eine Sängerin schmücken dieses wundervolle Werk.
Erfreulicherweise ist diese Platte erst das Debüt, ergo kann man noch auf einiges mehr hoffen, aber die Wartezeit zum neuen tanzbaren Skamanifest kann man sich hiermit wunderbar vertreiben! #2Toneepos
Bastien Vives - Der Geschmack von Chlor [Reprodukt]


Grandiose Bilder und wenige Worte, verwunderlich, dass ne Plaudertasche wie icke solch einen Comic gutheissen kann. Aber ich sag es mal so, es ist vielleicht die beste Parabel über das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die ich jemals gelesen habe und ganz nebenbei noch eine brillante Beobachtung des Entstehens von romatischen Spinnereien (und deren Absterben). Atmosphärisch, sinnlich, hinreissend und verdammt wortkarg. Ein Comic, der gelesen, verschlungen werden will und nicht beschreiben. Nur soviel - Chlorblau ist das neue (aufgeklärte) Rosarot. #Chlorblau
Aaron / Guéra - Scalped [Vertigo]

Comictipp Zwo dieser Empfehlungsrunde ist eine komplette Serie, die jedoch nur von Hartgesottenen, Gewalterprobten und Realitätsbegegnern erworben werden sollte - denn: Scalped ist tief verankert in einer bösartigen, zynischen, blutigen und ziemlich finsteren Realität und gerade deswegen großartig.
Selten zuvor hat mich eine Serie bereits auf kurze Distanz derartig überzeugen können, graphisch wird hier mehr als einmal Neuland betreten, die Blickperspektiven sind eigen und sehr erfrischend, die Farbwucht umwerfend und der Rotanteil der Panels ist stets recht hoch. 
Aber der Kniff, der diese im Native-American-Milieu spielenden Reihe so hervorhebt ist ein anderer. Scalped vermischt harsche Realität mit selten wattierter Fiktion, berichtet kenntnisreich von dem radikalen Widerstand der 70er und der kontroversen Justizposse im Fall Leonard Peltier (Infos hier).
Dieser wird im Comic zwar nie namentlich genannt wird, aber das Datum des Verbrechens, für welches er in einem umstrittenen Prozess verurteilt wurde, wird genau benannt. Ergo, Vertigo politisiert den Comic weiter - wer möchte hier klagen?
Und welcher Krimi kann schon von sich behaupten, dass sein Protagonist ein völlig abgefertigtes Crackwrack ist, welches sich im selbstzerstörerischen Sex mit seiner Geliebten immer tiefer in die Tiefen seiner Sucht treibt? Krasse Milieustudie, die von Band zu Band schwärzer wird. #FreePeltier
Marina Lewycka - Das Leben kleben [dtv]



Es wurde schon vieles über die Shoa geschrieben: Erschreckendes, banales, aufwühlendes und abstossendes. Die Frage sei daher erlaubt: Weshalb brauchen wir einen weiteren Roman zu diesem Thema - und kann dieser noch etwas neues beisteuern zu unserem Wissen über den industrialisierten Massenmord und laufen wir nicht gar Gefahr hier ein hochsensibles Thema als Unterhaltungsgenre zu etablieren?
Nun, ich sage ja, wir brauchen einen weiteren Roman - diesen Roman.
Die Hauptmotivation für meine Würdigung dieses Titels liegt hierbei in dem erzählerischen Geschick seiner Autorin. Lewycka hat bereits in ihren beiden Vorgängerromanen bewiesen, dass sie komplexe Sachverhalte, unaufgeregt, effektvermeidend und einfühlsam erzählen kann, sei es nun der ukrainische Holodomor oder das bittere Schicksal illegaler Arbeitsmigranten in Grossbritannien. Und auch hier gelingt ihr mit Bravour die Balance zwischen unterhaltendem Erzählen im Plauderton und historischer Aufarbeitung. 
Der Begriff von mehreren Millionen Tote ist die maximale Abstraktion einer konkreten Wahnsinnstat. Der Leichtfertigkeit, mit der stellenweise im öffentlichen Diskurs, mit dieser gigantischen Opferkategorie umgegangen wird wird hier auf ansprehende Weise begegnet und sie wird auf sublime Weise scharf kritisiert. Lewycka gibt den zahlgewordenen, namenlosen Opfern ein eigenes Gesicht zurück, re-individualisiert das Grauen. Man wird den Mutterwitz der charmanten, schrulligen alten Nachbarin der Protagonistin nie wieder vergessen, aber auch nicht deren Leid. #WutUndTränen
Dale Cooper Quartet And The Dictaphones - Parole De Navarre [Devonali]


Ja, alle Mitzählnazis dürfen jetzt mit dem erigierten Finger wedeln. Wir haben die Zehn passiert. Da ich aber ein großer Freund der Primzahlen bin, die ja nur mit sich selbst identisch sind, reiche ich noch einen Leckerbissen nach.
Auch hier handelt es sich einen Hörtipp, um schleppende, traurige Musik, manch einer würde vielleicht sogar dieses fürchterliche Wort depressiv verwenden, soll er doch - toll bleibt sie trotzdem. Das Dale Cooper Quartet wird allen postrock-, ambient- oder soundscapeaffinen Hörer mit Neigung zur winterlichen Stimmungslage zu einem lauten Bravo! hinreissen.
Wer sich nicht zu dieser Gattung Mensch zählt (oder zählen will) - lasst die Finger davon. Alle anderen sei gesagt: Kostet von diesem akustischen Nektar, ihr werdet es nicht bereuen. #EleganteMoodmusik