1. Mai 2012, Vor, Zurück, 8.22 Uhr

Von Guidorohm

Kaffee, Zigarette.
Ich beschäftige mich mit William Bird. Wenn ich die Augen schließe, dann kann ich ihn sehen. Er sitzt in seinem Schaukelstuhl. Abwesend. Schaukelt. Vor. Zurück. Er will das, was ihm verloren gegangen ist, einfangen. (Die Inspiration, sie muss doch irgendwo sein!) Vor. Zurück. Er schickt das Knirschen des Stuhls als Fauchen eines erfundenen Tiers auf Reisen.
Im nächsten Augenblick, er weiß nicht, ob er eingenickt ist oder wacht, streicht das Tier durch seine Wohnung. Vor. Zurück. Wie könnte er es nennen? Er hat keinen Namen dafür. Er lauscht dem Tier, das hungrig neben ihm Platz genommen hat. Er kann seinen Atem spüren, den Geruch nach Fäulnis, den es verströmt. Der Duftkörper tanzt in seine Nase. Eine verschleierte Tänzerin aus 1001 Nacht, die sich in seine Gedanken stiehlt, bis er angewidert aufspringt, hin zur Leinwand, um das zu malen, was er eben spürte und sah, dieses Tier, seinen Atem, der sich in die Nacken der Menschen schlägt. Wie betäubt trägt er über Stunden hinweg Urin, Kot, vergammelte Lebensmittel auf eine Holzplatte auf, bis er ermattet in sich zusammenfällt, einfach so.

Werde mit unserem Besuch heute über Bird sprechen, denn Melusine, bewandert in den Strecken, die in die Vergangenheit der Kunstgeschichte führen, wird einiges über Bird – über den sie einen Aufsatz für ihr Blog plant -, beizutragen haben. Es gilt, Bird endlich wieder ins Bewusstsein einer Öffentlichkeit zu tragen, die sich so lange nicht um ihn kümmerte. Wir sollten ihn aus dem Grab des Vergessens ins grelle Licht einer Fernsehshow schleifen.
“Wir dürfen das nicht”, sagt Seraphe. “Die Leute interessieren sich nicht für ihn, nicht für Literatur, nicht für kleine Filmproduktionen aus Israel. Die Leute lieben die Erregung, den Skandal. Viel lieber ereifern sich über ein fünftklassiges Nicht-Gedicht von Grass. Und der sitzt da, das Höschen nass und feiert seine Moral wie einen neuen Stern am Himmel, der den Weg weisen wird, hin zu ihm, hin zu all seinen leeren Worten.”
“Die Blechtrommel …”
“Was ist damit?”
“Ein großer Roman, ein wirklich …”
“Trink deinen Kaffee, schreib …”
Ich lehne mich zurück, strecke den Rücken durch, denke an Bird, an Melusine, an Morel, an meine Kinder, an meine Seraphe, an den Mississippi im Abendrot, an ein Schiff in Seenot.

All die Gedanken, man sollte sie notieren, um daraus eine Welt zu zimmern, die man gar nicht erst mehr verlassen muss.