Als ich die New York Times 1982 oder 1983 an einem Wochenende las, fiel mir die Werbung von Cutty Sark Whiskey auf, auf der man eine Farbzeichnung von Philip Glass sah, der Musiknoten auf seiner Hand hielt. Darin las man, es handelte sich um einen Komponisten, der in der Klassikwelt umstritten ist, aber in der Rockwelt viele seiner Anhänger findet. Woanders in der Zeitung am selben Tag las ich, dieser Glass spiele bald im Carnegie Hall, New York City. Wir gingen zu viert im Konzert und ich war im Staunen versetzt, als die ersten Töne erklangen. Noch nie hatte ich seine Musik gehört, ich kannte nur sein Abbild und seinen Namen aus dieser Werbung. Er gewann meine Ohren, mein Denken und mein ganzes Nervensystem sofort. Von Aufnahmen, die ich nachträglich hörte, war ich nicht immer begeistert, manchmal gar entsetzt, aber ich wollte mehr erfahren und sein Name zog meine Aufmerksamkeit immer wieder. Ein paar Jahre später, als ich in Boston lebte und meine Aufmerksamkeit für die Kunst von Akira Kurosawa anfing, erfuhr ich von den Film “Mishima“ (1985) von Paul Schrader mit der Musik von Glass. Wegen Glass ging ich rein und war erneut musikalisch ziemlich entsetzt aber er blieb mir ein Lieblingsdenker der Musik und dies teilte ich ihn auch mit, als wir uns plötzlich auf der Strasse in Harvard Square begegneten. Der Film trug aber dazubei, dass ich ein weiteres Individuum im Herzen schloß - Yukio Mishima – und dass mein Interesse für die japanische Kultur im vollem Gang kam.
Durch den Einblick in Mishima’s Leben und Bücher (wie “Geständnis einer Maske“ und “ Der Seemann, der die See verriet“) wuchs mein Interesse für Noh Spiele. Ich lernte seine Lyrik lieben und erfuhr ein wenig über seine Lebenseinstellung, Leiden und Freude. So entstanden manche Fragen und Gedanken über die Psyche und Existenz eines Menschens. Vor ein paar Wochen - 25 Jahren danach - schaute ich mir “Mishima“ erneut an und viele neue Gedanken, Sichten und Fragen, die mir damals verborgen blieben, sind nun entstanden - beispielsweise durch zwei Szenen. Viele Menschen scheinen das Gesicht als Identifikation und Gefühlsbarometer zu tragen. Mishima liegt im Bett nach einem Liebesakt - seine „schönen Beine“ betrachtend, nachdem er sich entschloßen hat, sein Körper durch Bodybuilding zu betonen - und sinniert darüber, seine Beine auch zu seinem Gesicht zu machen.
Eine weitere Szene: Es mag an der herausragenden schauspielerischen Leistung Ken Ogatas (1937-2008) als Yukio Mishima, oder an der Dramaturgie Schraders liegen und weniger an Mishima’s lang ersehnten Moment selbst, aber in der Szene, in der er am 25. November 1970 in seiner letzten Minute gekniet auf seine Männer aufblickt, verspürt man an seinem Gesicht Dankbarkeit, Traurigkeit, Frustration, Liebe und Vollkommenheit. Oder ich sehe ausgerechnet diese Ausdrücke, weil die Zusammenhänge in seinem Leben, meine eigene Art der Lebenszusammenstellung gleichkommen und zur Zeit von den Gedanken begleitet sind, dass das Singen notwendig sei, am besten sehr oft, oder zumindest am Ende des Lebens.
Kaum ein Gedanke nahm und leitete ihn mehr, als der des Sterbens (oder der Todeswunsch?). Als Literat, als Intellektueller, als Enkelkind, als Sohn, als Liebhaber, als Patriot, als Künstler und als Lehrer, er zielte in fast aller seiner Handlungen auf das Sterben hin, ob aus der Logik der Verantwortung oder aus der Sehnsucht heraus.
Ein Individuum kann mit seinen Pflichten wachsen und diese gekonnt ausüben. Hierzu bekommen Menschen in der Regel zwischen 40 und 70 Jahren Leben. Genau so wiederum kann ein Individuum in Umständen hinein geboren sein, in denen er als Opfer hieninkommt und sich als Opfer verabschiedet. Mishima scheint mir beide Möglichkeiten gelebt zu haben. Sein Intellekt, seine Erziehung - in ihre guten und schlechten Ausführungen -, seine Emotionswelt und die Liebe, alle diese Aspekte vereinten in ihm einen kreativen Mensch, der mit Leidenschaft und Akribi seine Verantwortung zu übernehmen suchte. Er schrieb mindestens 35 Romane, etwa 20o Kurzgeschichten und über 20 Essays. Dazu kamen 18 Theaterspiele und seine Leistung zu der Wiederbelebung des Noh-Theaters, sowie das Drebuch für seinen einzigen Film „Patriotism“. Darüber hinaus formierte er das Tatenokai, eine von ihn trainierte private Armee, die zum Schutz des Kaisers ins Leben gerufen wurde. Es lag aber zugleich im Zentrum seines Tuns die traditionsreiche und strenge Ehrenkultur Japans. Dies trug dazu bei, dass er mit 45 Jahren als Täter und Opfer sich verabschiedete, statt weiter zu leben, zu wagen und seine Talente für die Welt weiter umzusetzen. Talente und Werke, die die japanische Gesellschaft - ob die Elite oder die Popkultur - eng verfolgte und respektierte. General Mashita war der Kommandant im Ichigaya Camp, Ort wo Teil der Selbstverteidigungskräfte Japans trainierten und wohnten, dort wo an jenem Tag, um die Effektivität seines Plans zu gewährleisten, Mishima und vier seiner engsten Tatenokai Mitglieder General Mashita in seinem Büro in Gefangenschaft genommen hatten. Nachdem er seine Pläne den General erläuterte, seine geplante Rede hielt und der General von seiner schlimmste Befürchtungen erholt hatte, fuhr Mishima fort und kniet, nur Minuten vor seinem Schlußakt. General Mashita rief ihn verzweifelt wiederholte Male, er müsse es nicht tun. Er müsse es nicht tun. (Sesei) Mishima, Sie müssen es nicht tun. Aber Mishima musste es tun. Er hatte mit religiöser, künstlerischer, elitärer und politischer Intensität die Ehrenkultur seines Landes gelebt. Er musste es tun. Trotz der Rufe des Generals, konnte er seine Opferrolle nicht entgehen.
Yukio Mishima, in Wirklichkeit Hiraoka Kimitake, wollte singen. Sein ganzes Leben wollte er singen, oder besser, Gesang sein. Seine Rede auf dem Balkon vor den Garnison am Tag seines Todes und seine anschließende Worte zu seinen Mitstreiter - “sie haben mir nicht mal zugehört“ - sowie seine Blicke in den Sekunden vor seinem Seppuku Akt, zeugen meines Erachtens von seiner Frustration, dass ihm das Singen nicht gelungen war. Er wollte die Soldaten im Ichigaya Camp dazu bewegen, die Macht des Kapitalismus zu bekämpfen. Er suchte einen Putsch zu erreichen, um den Kaiser seine Macht zurück zu geben. Er wollte für Japan und seinen Kaiser singen. In seiner Romane, voller ungewöhnlichen, eleganten Rhetorik und samter Poesie, wollte er singen. Trotz der dominante Großmutter, er wollte singen. Er verstand es nicht, das wenn er als kleines Kind im Familienkreis über seine Geburt sprach, Seine Erzählungen waren ihr dann peinlich. Sie zwang ihn mit seinen Cousinen Puppen zu spielen aber durfte mit benachbahrten Jungens seines alters nicht. Sein Vater hielt sein Gesicht knapp vor fahrenden Zügen, um ihn Angst einzujagen. Vieles muss ihn im Leben entsetzt haben, genug um sich nach dem Sterben zu sehnen, aber nicht ohne erst Großartiges zu leisten, Poesie zu schaffen. Und doch, vielleicht war eben dies sein Singen.
Das Singen ist alltäglicher Ausdruck der Seele und des Gemütszustandes eines jeden Individuums. Oft ein spontaner, oft unbewusster Ausdruck, der keine Erwiderung oder gar Wahrnehung seines Umfeldes sucht, sondern schlicht ein Ausdruck, ein Ventil braucht. Und ein Singender, der mit der Bezeichnung Sänger lebt und wesentlich vom Erwiderung und Wahrnehmung seines Umfeldes beruflich abhängig ist, ist der einzig Musizierende, der sich auf keinen Instrument stützen braucht. Das Singen ist die reinste Musik, ist ihre Ursprung. Für den Mensch, im Wesen des Klanges, ist das Sing das Ursprünglichste. Singen ist das Höchste, was man von seinem innersten Ich geben kann, individuell, sowie global, allgemein wirkend. Es ist Sprache, ohne eine Sprache zu brauchen. Es ist Poesie, ohne Dichtung. Es ist Therapie, ohne die Notwendigkeit von Heilung anzustreben. Es ist Symbol der Freude, Symbol der Trauer. Es ist metaphysische Kommunikation.
Singen ist Erlösung.