Zwischen Sinnkrise und Aufbruch: Eine Kritik und Momentaufnahme zur digitalen Nomadenszene

Die digitale Nomadenszene hat ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem und verschweigt es konsequent. Sie verwechselt Erfolg mit Geld, Message mit Werten und Reichweite mit Wahrheit. In diesem kritischen Gastbeitrag schreibt Sebastian Berlein über Startups, digitale Nomaden und Entrepreneurship.

Zwischen Sinnkrise und Aufbruch: Eine Kritik und Momentaufnahme zur digitalen Nomadenszene

Als ich im Sommer 2016 zu Gast auf der Freiheitsbusiness Konferenz von Markus Gabor war, drehten sich die vielen tollen Vorträge um Amazon FBA und darum, wie Conversion Rates optimiert und Profitmargen erhöht werden können. Als letzter Speaker kam Sebastian Berlein kurz vor Mitternacht auf die Bühne und schaffte einen guten Ausgleich zu den zahlengetriebenen Vorträgen seiner Vorredner.

Er ruf allen Zuhörern ins Gedächtnis, wie wichtig neben nackten Zahlen auch die Liebe zum Produkt (und zur Idee) ist. Allzu oft vergessen wir vor lauter Betriebswirtschaft die Menschen und die Umwelt, die durch unsere Geschäftsmodelle betroffen sind.

Seit der Konferenz hatte ich einige inspirierende Gespräch mit Sebastian, dessen Meinung ich sehr zu schätzen gelernt habe. Deshalb freue ich mich sehr, dass er in diesem Gastbeitrag seine Kritik und gedankliche Momentaufnahme zur Startup Szene, zu digitalen Nomaden und Entrepreneurship mit uns teilt.

Eine Bitte vorab: lies diesen Beitrag mit einem offenen Geist. Egal, ob du Partei für die eine oder andere Seite ergreifst, wirf deine Vorurteile für einen Moment über Bord und reflektiere die kommenden Absätze. Die anschließende Diskussion (mit dir selbst oder öffentlich) soll einen Beitrag für mehr Bewusstsein schaffen.

Also, Vorhang auf für Sebastian Berlein.

Die digitale Nomadenszene hat ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem und verschweigt es konsequent. Sie verwechselt Erfolg mit Geld, Message mit Werten und Reichweite mit Wahrheit.

Groß war meine Hemmung diesen Beitrag zu schreiben. In einer Welt, die durch ihre Fülle an Gütern zu ersticken droht. In einer Welt, in der alles nach Aufmerksamkeit schreit, sind meine Worte hier wohl eher als ein Flüstern zu verstehen.

Die digitale Verschmutzung wird morgendlich sichtbar. Erstmal wieder Newsletter abbestellen, ignorieren was mir anscheinend gefällt. Und mir will mal wieder jemand zum tausendsten Mal beibringen, wie ich mit Amazon ortsunabhängig leben und arbeiten kann. Ach ja und dann war da ja noch Instagram, Snapchat & Co.

Im Hostel in Mexiko sitzen alle wie gebannt vor ihren Smartphones sowie Laptops und hauen in die Tasten. Ich auch. Eine Meute jagt nach "xk"-Reichweiten", "Usern", "Communities", "Email-Verteilern" und will dabei unverblümt den Wunsch ausleben - jemand zu sein. Mit Stolz jagt eine elitäre Community die andere.

Teils wird gegen Geld exklusiver Zugang gewährt. Alle suchen die Tricks, um beispielsweise Steuern zu vermeiden und damit der "King vom Pausenhof" zu sein. Jugendliche werden mitunter in ein vermeintlich besseres Hamsterrad gelockt. Es geht um das eigene Ich. Es geht um Geld, nichts anderes. Wer zuerst kommt, klickt zuerst. Es war nie anders.

Wer zuerst kommt, monetarisiert zuerst.

Sich selbst inszenierende Hobby "Entrepreneure" haben gemeutert und das Ruder übernommen. Sie überschwemmen eine Startup Szene, welche zuvor noch nach Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit gesucht hat. Das war gestern. Jetzt zählt "Money, Money" und an jeden "unique visitor" denken. "Superfood", "Amazon", "FBA" und bei Markus Lanz sitzen die "Internet Rockstars". Mir wird kurz schwindelig.

Was haben wir eigentlich erreicht? Außer, dass eine sogenannte "share economy" immer weniger sozial agiert, Infrastrukturen ruiniert und für immer weniger Geld alles haben will. Und wir? Wir machen mit. Ich auch.

Einsamen Laptopern ruft heute die Bequemlichkeit der ersten Welt zu - fast wie ein Freizeitangebot - "Mach dein Business in 10 Tagen". Mal sehen, habe ich noch etwas Zeit, ok, mach ich. Ob sie außer ihrem eigenen Leben die Dinge verändern wollen, wage ich zu bezweifeln. Diese haben - wen wundert's - Business als Lifestyle entdeckt.

Die, die es schaffen, werden als sogenannte Rockstars der Szene announced. Viel schlimmer noch, teils als Entrepreneure bezeichnet. Sie geben Vorträge, Workshops und Konferenzen. Schnell das Momentum nutzen. Schneeballeffekte in real-time, einmal anders. Denn der Hype war gestern. Die Selbstdarstellung wird auf die Spitze getrieben. Es kommt mir vor wie damals in der Schule: Jemand hat den Kaugummi-Automat geknackt. Cool, oder? Doch wir kommen nicht darum herum, irgendjemand bezahlt für diesen Raubbau. Es werden nicht die Reichen sein.

Korrekt war gestern.

Die Werte in unserer Gesellschaft haben sich in den letzten Jahren verschoben. In vielerlei Hinsicht. Die digitale Nomaden-Szene ist natürlich ein Spiegel davon.

Wir verpesten die Umwelt mit unseren jährlichen Flügen - welche natürlich günstig sein sollen - und machen dann bei Plastik-Strandsäuberungen auf Bali mit.

Wir sourcen Produkte aus Billiglohnländern und wenn wir gnädig sind, zahlen wir am Ende 10% mehr Lohn an die Arbeiter. Nett, mehr nicht. Denn die Marge muss stimmen.

Schönheitsfehler, die nicht so recht passen wollen in unser Bild von Sonne, Strand und Meer. Es gibt keine Werte-Agenda, keine Vision und erst Recht kein Ziel der digitalen Nomaden außer das eigene Ich zu polieren.

Postkolonialismus 2.0, welcher überwiegend Menschen aus der ersten Welt vorbehalten ist. Beziehungsweise ist diese Menschengruppe privilegiert überhaupt erst die Option eines digitalen Nomadentums zu versuchen. Mit der Absicherung jederzeit in das beste Versorgungsnetz der Welt zurückzufallen - die Staatsbürgerschaft wird zum Alleinstellungsmerkmal.

Wer hat eigentlich diesen Begriff "digitale Nomaden" erfunden, der für eine Szene steht, die dieses Wort ohne Widerspruch adaptiert hat? Vielleicht, weil sich das im Fernsehen gut verkauft? Ähnlich wie "Hipster" wissen alle was gemeint ist, nur komischerweise zählt sich kaum einer ernsthaft dazu. Beides Beispiele unserer angepassten Unangepasstheit.

Uns ist der Mut abhanden gekommen, uns selbst zu definieren. Oder lassen wir uns erschlagen vom SEO-Keyword-Todesstern, der uns marketingtechnisch dazu zwingt uns zu konfirmieren? Wo ist unsere Freiheit, unser Rebellentum? Wir haben es abgegeben an der Garderobe der Monetarisierung.

Es ist nicht mehr als eine Randnotiz und dennoch bemerkenswert, dass viele Plattformen, Konferenzen und Communities, die mit der Ortsunabhängig-Arbeiten-Philosophie verbandelt sind, häufig gar nicht von digitalen Nomaden geführt werden. Es ist der Diebstahl einer Idee, ein Fall der Verletzung von Intellectual Property Rights und ähnlich wie die Ikone Che Guevara laufen wir Gefahr komplett kommerzialisiert zu werden.

Leadership, Adieu!

Wie wenige Leader und Entrepreneure tatsächlich dort draußen unterwegs sind, zeigt sich in narzisstischen Videos und Fotos, in denen man den Drang nach Anerkennung & Fame so sehr spürt, dass einem schnell schlecht wird. Startups & Gründer werden in zahlreichen Artikeln, Blogs, Podcasts durchgereicht wie an der Supermarktkasse. "Der Nächste Bitte", Hauptsache Preis und die Reichweite stimmen.

Ach ja, und die Qualität an der berühmten Abbruchkante. Alles in allem verdaubare Häppchen, damit der Content nicht zu schwer im Magen liegt. Denn das Format funktioniert. Und es funktioniert wirklich!

Doch es gibt ein Zeichen der Hoffnung, so könnte man denken. Denn erstaunlicherweise entdecken dann selbst diese Menschen nach ein einiger Zeit ihr Gewissen wieder. Es folgt die Sinnsuche. Wie sollte es auch anders sein, natürlich wieder in Vorträgen zelebriert, öffentlich. Man ist jetzt der "good guy". Still war gestern. Leider entsteht diese monetarisierte Erkenntnis erst, nachdem wieder einmal sinnlose Produkte in die Welt gesetzt wurden. Es wirkt wie ein Hangover. Eine zu Ende gehende Pubertät. Man blickt vermehrt in seelenlose Gesichter.

Die Dinge haben sich geändert. Vor einigen Jahren wurde man noch als 'Nerd' klassifiziert, "Startup" hatte die Anklänge eines Fitness Studios und "Gründerzentren" sahen aus wie verlassene Orte nach einem nuklearen Endszenario. Heute werden die Wohlfühl-Coworking-Labs weltweit aufbereitet, für die sogenannten digitalen Nomaden und Hobby-Entrepreneure in Teilzeit.

Gegen den Strom!

Ernsthafte Traveler, die seit Jahren unterwegs sind, sind schon längst zu Weltbürgern geworden. Aus diesen Reisenden sind mittlerweile Menschen entwachsen, welche die Suche nach Freiheit antreibt. Geld war nie deren Motivation. Das sind wir, die Sinnsucher. Individuen, welche sich eigentlich nie starren Strukturen und Lebenskonzepten ergeben haben. Und die Widerstände waren groß, der soziale Druck erst recht, bis heute.

Was digitales Nomadentum, ortsunabhängiges Arbeiten oder Amazon FBA mit Entrepreneurship zu tun haben soll, hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Lediglich die Cafes mit Laptops sind weniger geworden. Ich vermute die zahlreichen Freelancer, Workaholics und digitalen Nomaden haben ein Zuhause gefunden.

Ich wünsche es ihnen so sehr.

Zwischen Sinnkrise und Aufbruch: Eine Kritik und Momentaufnahme zur digitalen Nomadenszene

Über den Autor:

Sebastian Berlein lebt zwischen Mexiko und Berlin. Seit 8 Jahren gründet und berät er Startups. Sein neuestest Projekt ist die Vanilla Campaign, das die original Vanillepflanze aus Mexiko in die Welt bringen soll und gleichzeitig die Bauern vor Ort unterstützt.


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