Wahn und Wirklichkeit

Das-Zimmer-Jonas-Karlsson

Manchmal liegen Wahn und Wirklichkeit gar nicht so weit voneinander entfernt. Manchmal gibt es kein richtig oder falsch, sondern nur ein dazwischen. Da bleibt man dann einfach ratlos zurück, allein mit seinen Gedanken. So ging es mir mit Das Zimmer von Jonas Karlsson. Die Lektüre bereitete Vergnügen, jedoch blieb ich ratlos nach Beenden zurück. Was schreiben? Vielleicht hilft es, zuerst einmal ein wenig Ordnung zu bringen.

Björn ist der Neue im Großraumbüro im vierten Stock. In welcher Behörde er arbeitet, verschweigt der Ich-Erzähler. Move on war der Grund, warum Björn überhaupt erst in dieser neuen Behörde gelandet ist. Er ist seinen Aufgaben entwachsen und so wurde es Zeit, dass er sich nach einer neuen Stelle umsah, in der er besser zeigen konnte, was in ihm steckt. Mit diesen Worten ermutigte ihn sein alter Chef, neue Schritte zu wagen – oder er wollte ihn bloß loswerden. Jedenfalls hat Björn es erneut wieder nur mit Idioten zu tun, sein neuer Chef Karl miteingeschlossen. Björn verwendet viel Zeit dafür, effizient zu arbeiten. Konzentriert arbeitet er 55 Minuten am Stück, vermeidet Gespräche mit Kollegen, Telefonate oder Toilettengänge, um nicht abgelenkt zu werden. Erst nach der Fünfundfünfzig-Minuten-Phase darf er ein Päuschen machen.

Schon bald entdeckt Björn auf dem Weg zur Toilette ein Zimmer. Zufällig, denn er hat sich in der Tür vertan. Das Zimmer hat eine ganze eigene Wirkung auf ihn, Björn hat das Gefühl, es wäre nur für ihn bestimmt. Immer öfter sucht er diesen Raum auf, um wieder zu Kräften zu kommen, sich zu sammeln und seine Gedanken zu sortieren.

„Wie hatte der Architekt es nur angestellt, so effektiv ein Zimmer zu verbergen, das ganz frech direkt vor der Nase aller Angestellten lag? Und wer hatte sie dazu gebracht, sich so glaubwürdig zu benehmen, als existierte es nicht?“

Nur sieht es für die anderen Kollegen im Büro etwas merkwürdig aus. Björn verschwindet nicht im Zimmer, sondern steht einfach nur da, an der Wand zwischen Toilette und Aufzug, und glotzt vor sich hin. An dieser Stelle musste ich unwillkürlich loslachen. In der Zeit spricht Konstantin Ulmer von einem schwedischen Krimi und vergleicht ihn mit Kafka (!). Protagonist und Figuren sowie die absurde Arbeitswelt legen einen Vergleich nahe, denn sie erinnern sofort an den Autor, der selbst einer unliebsamen Arbeit in einer Versicherungsgesellschaft nachging, und über eine groteske, unsinnige Maschinerie an Behörden und Bürokratie schrieb, wie kein anderer. Kafka wusste es, mit seinen Geschichten in den Bann zu ziehen und Beklemmung, gar Angst, im Leser auszulösen. Nur löst Das Zimmer von Karlsson keine beklemmenden Gefühle in mir aus, sondern vielmehr Belustigung. Es reicht meiner Meinung nach nicht, einen verrückt gewordenen Protagonisten, der sich für überdurchschnittlich intelligent hält, in einer namenlosen Behörde, in der alle irgendwelche sinnfreie Sisyphusarbeit erledigen, arbeiten zu lassen, um dann mit einem der Größten in der deutschen Literatur auf ein Podest gestellt zu werden. Mir fehlen die bittere Ironie, der Zynismus sowie die Düsterkeit, für die Kafka so berühmt geworden ist.

Nichtsdestotrotz ist Das Zimmer auf seine Weise ein besonderer Roman. Immer wieder schafft Karlsson es, dem Leser glaubhaft zu machen, Björn leide unter Wahnvorstellungen, um ihn dann wiederum vom Gegenteil zu überzeugen: Nicht Björn ist verrückt, sondern alle Kollegen im Büro haben sich gegen ihn verschworen und versuchen, indem sie die Existenz des Zimmers leugnen, aus der Behörde zu mobben. So treibt Karlsson ein Spiel mit dem Leser, der am Ende allein zurückbleibt und entscheiden muss, was nun Wahn und was Wirklichkeit ist.

Jonas Karlsson: Das Zimmer. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Luchterhand. München 2016. 176 Seiten. 17,99 Euro.

Ich danke dem Verlag herzlich für das Rezensionsexemplar.



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