Wacht auf, ihr Blogger in der Herde

Wacht auf, ihr Blogger in der Herde Das Monat ist fast um. Die Ereignisse der Silvesternacht liegen schon eine Weile hinter uns. In einer eiligen Zeit wie unserer fühlt es sich an, als läge Silvester bereits ein Dreivierteljahr zurück. Bislang habe ich mich mit keinem Ton dazu geäußert. Jemand fragte mich vor einigen Tagen schon, ob ich jetzt schweigen würde, weil die Realität so bitter sei. Schließlich sei nun bewiesen, dass Muslime und Deutschland nicht zusammengehen könnten. Daran habe ich nicht gedacht, als ich beschloss, meinem Mund mitsamt Fingern Einhalt zu gebieten. Ich blieb still, weil ich es endgültig satt habe, als Blogger Teil der allgemeinen Hysterie zu sein, die je und je über das Land schwappt. Ich habe genug davon Schweinen durchs Dorf hinterherzueilen, die ich nicht habe entfliehen lassen.

Klar, es gibt ja verschiedene Stimmen zu Köln. Einige waren sogar mehr als vernünftig, haben die Ereignisse von Köln dialektisch eingeordnet und dem Schwarm der Hassprediger ein Stückchen Aufklärung entgegengehalten. Das ist nicht nur lobenswert, sondern weitaus mehr. Es ist Heimat in einer Zeit, da uns der massive Rechtsruck die liberale und rechtsstaatliche Heimat entreißen will. Aber beide Seiten, die Hatespeaker wie deren Gegenspieler von der humanitären Seite, laufen einer Sau hinterher, die man durch die Dörfer des deutschen Provinzialismus jagt. Sie stimmen beide auf ihre jeweilige differente Weise in die gesetzte Agenda ein, posten, kommentieren, propagieren und thematisieren, bis es zu einer regelrechten Hysterie kommt, die einen Vorfall zu etwas stilisiert, was angeblich »eine neue Dimension« oder »eine völlig neue Art« ist. Man stellt Singularität her, die von allen Betrachtern, gleich welcher Weltanschauung, mehr oder minder bestätigt wird. Und in diesem Klima werden dann natürlich exakt auf dieses singuläre Ereignis zugeschnittene Lösungsansätze, Gesetze, Umgangsregeln oder was auch immer gefordert. Das wiederum führt dazu, dass man dieses Thema weiter ins Zentrum stellt, weiter minutiös davon berichtet, Tickermeldungen hier, neueste Entwicklungen dort, alles Denken der Betrachter dreht sich nur noch darum, andere Geschehnisse werden ausgeblendet, fallen hinten runter. Der Hype erlaubt keine Synchronizität von Sujets.
Seit etwa einem Jahr schaue ich nicht mehr TV. Wir bezahlen hier die Rundfunkgebühr und schauen uns dann »Die Anstalt« in der Mediathek an. Die Anschläge von Paris habe ich verpasst, erst am Folgetag mittags habe ich davon erfahren. Mir ist aber nichts entgangen. Während ich mich anderweitig beschäftigte, saßen Millionen am Fernsehapparat und verfolgten Eilmeldungen, Tickerbänder liefen am unteren Bildschirmrand. Spekulationen wurden genährt, Eventualitäten als Meldung verkauft, erste Statements von Leuten, die ihre Erkenntnisse aus Tickerbänder hatten, in denen spekuliert und eventualisiert wurden, wurden gesammelt und eingespielt. Das Gegenteil von Information ist minutiöse Berichterstattung. Sie reiht den wirklichen Informationsgehalt neben informativen Entbehrlichkeiten und lässt sie damit schrumpfen. In diesem Klima reift die Hysterie, denn man sucht ja nach Erkenntnis, nach Erklärung und wirklicher Information und jeder will diese Gemengenlage aus Info und Sonstiges enträtseln, liefert dann eigene Ansichten, die auf Fakten beruhen, die faktisch nicht Fakt sind, sondern Möglichkeit. Und weil dem so ist, werden all die Kommentare von Hasspredigern wie von Vernünftigen ebenso nur zur Spekulation.

Selbst die seriösen Berichterstatter können ja nur noch auf Material zurückgreifen, das nicht geprüft ist, das belastet ist von dem Stimmengewirr und dem Getappe im Dunkeln. Ja, selbst die Polizei kommuniziert Hysterie, wenn sie Berichte anfertigt, die halbfertig sind und die Vorwürfe und Spekulationen aufgreifen und bestätigen, dass man noch nicht genau im Bilde sei, wohl aber wisse, dass es so oder so gewesen sein könnte. Hysterie ist zwar kein Konjunktiv, aber letzterer ist die Sprache des Hysterikers. Bei ihm könnte, würde, hätte, unter Umständen, vielleicht, nach derzeitigem Stand der Ermittlungen und nach vorsichtiger Schätzung, eine halbgare Info immer ein egalitäres Existenzrecht neben sachlich recherchiertem Fakt.
In so ein Klima will ich nicht mehr textlich vorstoßen. Ich werde es künftig natürlich nicht vermeiden können, auch mal in die Hysterie hineinzukommentieren. Aber ich bereichere keine Debatte, die auf allen Seiten im hysterischen Zustand geführt wird und die auf Aussagen beruht, die noch nicht mal verifiziert und fertigermittelt sind. Ferner möchte ich nicht polizeiliche Ermittlungen beeinflussen, indem ich mich zu etwas äußere, das noch gar nicht spruchreif ist. Theoretisch natürlich, denn so wichtig bin ich ja nicht, als dass die Polizei irgendwie bei mir nachlesen würde.
Ich will aber so oder so der Hysterie als Bürger und Blogger entgehen und als letzterer will ich noch etwas anderes anmerken, denn wir Blogger lassen und mehr und mehr von der Agenda der so genannten Qualitätsmedien einspannen. Wir nehmen ständig deren Themen an, ereifern uns über die Komplexe, die sie forcieren und wenn sie ablassen von ihrer Beute, dann lassen wir auch ab, weil wir ganz genau wissen, dass im hysterischen Klima des Moments solche Texte gerne gelesen werden, die sich mit eben dem Gegenstand dieses Klimas befassen. Zeitungen machen das ja auch, deshalb legen sie nach und schreiben noch einen und noch einen Text dazu, egal wie gegenstandslos der Inhalt auch sein mag. Als Blogger müssten wir das nicht tun. Wir unterhalten keine Werbekunden und haben keine Angestellten, wir müssen nicht auf Teufel komm raus wirtschaften, auch wenn wir natürlich manchen müden Euro gerne mitnehmen.
Wacht auf, ihr Blogger in der Herde! Lasst uns selbst Themen setzen und künftig über solche Themen, die die Masse hysterisieren, mit zeitlichen Verzug schreiben. Warum? Damit wir sachlich bei den Fakten bleiben können, die erst nach und nach ans Tageslicht kommen und die in den ersten Stunden und Tagen solcher Ereignisse noch gar nicht verifizierbar sind. Die klassischen Medien sollten das an sich auch tun, aber sie kann man nicht belehren, denn sie spielen ein anderes Spiel, wollen mit Schlagzeilen verdienen. Wie gesagt, Blogger wollen auch leben, aber sie können sich den Luxus zeitlicher Verzögerung eher leisten. Deswegen mache ich jetzt Wochenende.

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