Vor der Zäsur

Noch einige Augenblicke bis zur Zeitenwende in Deutschland und Europa, nur noch einige Stunden. Noch nicht ganz; noch ist Hoffnung. Und die schielt auf das Bundesverfassungsgericht. Das wird sodann einige Spitzfindigkeiten anbringen, drei bis fünf Ungereimtheiten beanstanden und folglich nur noch zusehen, wie die Abwicklung des politischen Gestaltungsrahmens geformt, wie dieser erlischt und radikal versachzwangt wird. Ratifiziert wird die Übernahme der nationalen Souveräntitäten in Europa durch die Brüsseler Exekutive in einigen Wimpernschlägen dennoch sein - fehlt nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten. Auf dessen Weigerung kann man in etwa so hoffen, wie auf die belebende Wirkung eines Aderlasses.
Die Linke, diese angeblich einzige antidemokratische Partei im Parlament, versucht kurioserweise das zu retten, was wir noch Demokratie nannten, weil uns der Präfix Post- irgendwie immer nicht einfiel. Der Dank hierfür wird sein, dass sich Die Linke noch mehr isoliert, dass man sie zu den Bestattern des europäischen Gedankens erklärt und als Spielverderber anschwärzt. Was für Zeiten! Da prescht die Reaktion progressiv voran, da wird der Ständestaat mit ganz neuen kontinentalen Mitteln aufgefrischt - und soziale, ausgleichende Politik führt, obwohl benötigt, obwohl sie Konjunktur haben müsste, nur auf das Abstellgleis der öffentlichen Wahrnehmung und Akzeptanz. Die Linke bekommt hin und wieder zu hören, sie wolle nur Macht und ginge dafür den populistischen Weg - wollte und täte sie ausschließlich dies, hätte sie lediglich dieser Sehr Großen Koalition beitreten müssen, die den ESM zu ratifizieren verspricht.

Was hat man nicht alles gelesen, nachdem Krisen den Kontinent einhüllten, diese vielen kleineren Krisenherde, die von der Strukturkrise des Systems ablenken sollten. Frohnaturen und Schwärmer meinten zuversichtlich, nun sei das Schlimmste überwunden, nun sei diese Politik, die nur noch Wirtschaftspolitik sein wollte, sei der neoliberale Kurs endgültig diskreditiert genug, um auf der Schutthalde der Geschichte zu landen. Tja! Heute wissen wir höchstoffiziell, dass es dieser Neoliberalismus gar nicht war, der das Kriseln machte, es war eher das Zuwenig davon. Daher musste man ihn bestärken, auf dass er bestimmter, entschiedener praktiziert würde - er sollte fast sowas wie Verfassungsrang haben. Und in einigen Stunden wird das auch so beschlossen sein. Zweidrittel des Bundestages verfügen dies dann für Deutschland - und für den Rest Europas, wenn man schon mal zusammensitzt und darüber spricht. Gut, gesprochen wurde darüber nicht, die Regierung malte die Alternativlosigkeit an die Tafel und erzählte Schauermärchen, wie es würde, wenn es nicht so würde, wie sie es gerne sähe.
Diese Alternativlosigkeit ist bald nicht mehr nur Gebärde, sie ist dann offizielles Programm Europas. There is no alternative! ist die neue Präambel. Der Eingriff der Brüsseler Exekutive entzieht dem Parlament Entscheidungsbefugnis, drängt zu neoliberalen Strukturreformen und stellt Sozialpolitik hinten an. Wir können unseren Enkeln in vielen Jahren erzählen, dass wir sowas wie Sozialpolitik erlebt haben, dass wir Gesetze gekannt haben, die als Ziel die Partizipation aller Bürger angaben - Sozialismus... Opa, du hast im Sozialismus gelebt?, wird der Grünschnabel fragen - er wird in der stark unterfinanzierten Schule, deren Lehrpläne freundlicherweise für wenig Geld die Familie Mohn schreibt, davon gehört haben; und er wird davon gehört haben, dass der mutige Beschluss zur ESM Europa vor dem lauernden Sozialismus und seiner widernatürlichen Gleichmacherei bewahrt hat. Wir werden bestenfalls unserem Enkel davon erzählen können, die in Aussicht gestellte längere, immer noch längere und noch längere Lebenserwartung, die uns mit Urenkeln bekannt machen würde, ist erstmal verschoben. Der Bundestag wird ab und an die gesundheitliche Versorgung ausbauen wollen, nur wäre das eine Mehrbelastung im Staatshaushalt, da macht Brüssel nicht mit und verbietet es. Solche Schauermärchen hat die Regierung bislang vergessen zu erzählen...
Neoliberalismus als Verfassungsauftrag - das hätte doch keiner geglaubt vor einigen Jahren! Man hat immer wieder Ansätze davon gesehen: bei der EU-Verfassung, beim Vertrag von Lissabon - aber dass es mal so unvermittelt, so direkt und schroff geschieht, das war nur die Überspitzung diverser Publizisten, die auf diese gefährliche Richtung aufmerksam machen wollten. Das war doch nur ein dramatischer Kniff! Die Krise hätte den Neoliberalismus schrumpfen sollen - aber er ist geadelt worden. Er nennt sich nun konstitutioneller Liberalismus, Monarch qua Verfassung - der außerdem auf Gottesgnadentum fußt: Du sollst neben mir keine anderen Götter haben! Hätte Jahwe seinem Mose heutigentags die Leviten, also die Gebote gelesen, so würde dieses ersten Gebot wohl lauten: Ich bin der Alternativlose!
Nie wieder neoliberale Reformen, nie wieder Privatisierungswahn, nie wieder Wettbewerbsdruck im Gesundheitswesen oder bei der Versorgung von Senioren beispielsweise, nie wieder effizientes Bildungswesen zur reinen Berufsvorbereitung statt humanistisches Bildungsideal und Vermittlung von Allgemeinwissen, nie wieder Markt im Sozialwesen, nie wieder ein Primat des Spekulativen vor dem Realen - das hoffte man, glaubte man zum Greifen nahe. Eine historische Chance schien sich zu eröffnen. Das ist eine Zäsur, eine große Wende!, jubelten manche - endlich käme es anders, wieder auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnittener. Diese Zäsur ist nun ganz anders da, die Zeitenwende lauert anders als optimistisch gedacht in Startlöchern, wartet nur noch auf die Unterschrift des Bundespräsidenten, der wiederum nur auf die Einwilligung des Bundesverfassungsgerichts wartet. Leider wird das kein beckettsches, kein unaufhörliches Warten sein - dann hat es sich ausgewartet und die Zäsur ist endlich vollzogen.
Vielleicht arrangiert man dann doch noch einen Volksentscheid. Nicht aus Verantwortungsgefühl heraus, nicht weil man sich schämt, über den Kopf derer, die man politisch entmündigt, Entscheidungen zu fällen - nein, ganz kalkulativ. Man muss sich schon verdammt sicher sein, die Medienlandschaft in der Tasche zu haben, um glauben zu können, aus einem Volksentscheid legitimiert herauszugehen. Über die Medien fällt oder erwächst die Übernahme der nationalen Souveränitäten - wir sind bis hierher überhaupt gekommen, weil die Medien derart unkritisch berichteten. Wenn sie nun beginnen, ein mögliches Nein bei einem Volksentscheid als Untergang Europas zu zeichnen, als Niedergang des Wohlstandes und als metaphorisches Einfalltor für leistungsstarke Chinesen und leistungsschleicherische Afrikaner oder Araber, dann wirken sie aktiv mit am neuen Europa. So weit sind wir gekommen! Die Putschisten fordern Volksentscheide, weil sie ganz genau wissen, wie die Medien ihnen zuspielen. Und am Ende waren wir es, die es legitimiert haben - jammert nicht, ihr wolltet es doch!
Ach, und falls der Volksentscheid scheitert, machen wir es eben irisch - dann befragen wir in einigen Monaten nochmals das Volk - und nochmals - und nochmals... irgendwann ist es müde genug, um Ja zu sagen. Infantile Taktik! Kinder quengeln und bearbeiten ihre Eltern solange, bis die Ja zu PlayStation und Wuschelhund sagen. Belästigen, nerven, bearbeiten - dieser kindische Terror nennt sich dann Politik im Namen des Volkes.
Ironie ist vorallem, dass man diese Augenblicke bis zur Ratifizierung nochmal als Teil einer Freiheit genießt, die sich dieses Europa nach dem Krieg stückchenweise erarbeitet hat - dabei ist diese Freiheit schon lange beschnitten und zersetzt. Aber man tut so, als sei das Jetzt noch lebenswert und das Dann nicht mehr. Das adelt das Jetzt, hübscht es unberechtigterweise auf. Schon heute ist die Freiheit des Parlamentes relativ. Sie ist erstickt im Lobbyismus, erstickt von einer ökonomischen Lehre, die sich Selbstzweck ist und keinerlei ethische Inspiration kennt, erstickt in obskuren Machtverhältnissen, die sich in Parolen wie Der Markt glaubt..., Der Markt fordert..., Der Markt reagiert... niederschlagen. Schon jetzt ist dieser Markt der Okkupator des Parlaments - dort ist er so selbstherrlich, dass er sogar schon im pluralis majestatis auftritt, als Die Märkte. Wir geben kein Eldorado auf - im Grunde war Opposition gegen diesen neoliberalen Zeitgeist in den letzten Jahrzehnten nicht mehr, als das wenige Erhaltenswerte, das es noch gab, zu sichern und dabei zuzusehen, wie diese Sicherung scheiterte. Vielleicht war das auch, ohne es in Schutz nehmen zu wollen, das Motiv hinter dem pseudosozialdemokratischen New Labour: Erhalten, was zu retten ist. Aber man rettete von zehn immer nur zwei Sujets - und das auch nur für eine kurze Atempause. Nun treten wir in eine neue Zeit ein und weinen dem Davor nach, obwohl das auch schon marode war - wir wollen abermals nur erhalten. Man war als Opposition so mit dem octopus neoliberalis beschäftigt, mit diesem Kampf gegen Fangarme, die den Aufbruch und Abbau von sozialen Errungenschaften, Traditionen, Lebensgefühlen, Ruheräumen und Entschleunigungen markierte, dass für die Definition eines anderen Weges kaum Zeit blieb. Und definiert man ihn doch, so endet man wie Die Linke - denn alles was heute geschieht ist alternativlos. Wer etwas anderes erzählt, der muss geradezu lügen.
Nochmal durchatmen, noch ist die Zäsur nicht ganz vollzogen. Nochmal Luft einsaugen in dieser anderen Welt, in der es theoretisch noch die Alternative zur Alternativlosigkeit gab. Die Luft schmeckt nachher nicht anders als heute - aber sie wird für einen großen Teil der Menschen das einzige sein, was man sich noch leisten kann. Partizipation unter dem ökonomischen Einfluss des Brüsseler Exekutive heißt, teilzuhaben an Luft und Liebe - denn die fallen nicht in den Bereich der Schuldenbremse.
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