Vom Mann, dem die Decke auf den Kopf fiel

Vom Mann, dem die Decke auf den Kopf fiel

Pierre Rigal in "press" (c) Frédéric Stoll

„Press“ von ´Cie Derniere Minute mit Pierre Rigal im Pôle-Sud

Es gibt Theater, Tanz, Tanztheater und Pierre Rigal. Für ihn muss erst ein passender Begriff gefunden werden, denn was und wie er eine Stunde lang auf „seiner“ Bühne performt, lässt sich nicht mit den gängigen Schubladisierungen abstempeln.

„Seine“ Bühne ist ein Guckkasten, eine Bühne, auf der Bühne. Ein schlichter, grauer Raum, von der eigentlichen Bühne abgehoben, zum Publikum hin geöffnet, mit einem Klappstuhl aus Plexiglas und im linken Bühneneck, einer modernen Gelenklampe, wie man sie zu Hunderttausenden in den Baumärkten dieser Erde kaufen kann, ausgestattet. Allerdings mit einem winzigen Unterschied. Rigals Lampe besitzt zusätzlich zu ihrem Strahler ein kleines rotes Lämpchen, das sich im Lauf der Vorstellung noch als fatale, treibende und destruktive Kraft herausstellen wird. Davon aber später. In schwarzem Businessanzug mit schwarzer Krawatte vermisst der französische Tänzer und Choreograf  leichten Schrittes sein kleines Reich. Er dreht sich um seine eigene Achse, nimmt artifizielle Posen ein und – so hat es den Anschein – beginnt sich in seiner Welt zu langweilen. Bis zu jenem Augenblick, in dem er sich der Bestrahlung des roten Lämpchens aussetzt. Wie ein künstliches, intelligentes Wesen beeinflusst es den jungen Mann, der sich nach einer kurzen Dosis Rotlicht nun verändert durch seine kleine Welt bewegt. Nichts läuft mehr „rund“ wie zuvor. Jede Bewegung scheint manipuliert. Die Arme gehorchen ihm nicht mehr, seine Beine geraten außer Rand und Band und was unten war,  ist plötzlich oben und umgekehrt. Rigal schlägt der Schwerkraft ein Schnippchen, wandert quer über die Wände, steht auf dem Kopf und tut so, als sei dies seine ganz normale Haltung. Durch elektronische Musik unterstützt, die seine Bewegungen wie aus Computerspielen bekannt, verstärken, vermittelt er den Eindruck, als seien die Wände magnetisch, teilweise sogar elektrisch und würden seine Gliedmaßen anziehen und abstoßen, ohne dass er sich dagegen aktiv zur Wehr setzen könnte. Wer meint, dass es für einen Menschen in einer kleinen, rechteckigen Box nur ein eingeschränktes Bewegungsrepertoire gibt, der irrt gewaltig. Jede neue Minute wird von einem neuen Körperbild geprägt. Absurdität, das Gefangensein in einem alles beherrschenden System, der Wille sich dagegen zur Wehr zu setzen und die Ohnmacht, doch nichts dagegen unternehmen zu können – all dies drückt der „Tänzer“ in seinem Formenrepertoire klar und deutlich aus.  Verschärft wird die Ausgangslage schließlich durch das Absenken der Decke, die dazu führt, dass sein Kopf plötzlich nicht mehr sichtbar ist. Im wahrsten Sinne des Wortes läuft er ab nun „kopflos“ zwischen den Wänden herum und lauscht der Stimme vom Band, die davon singt, was in ihrem Kopf denn so alles vorgehe. Eine starke, bildliche Metapher, wie überhaupt das ganze Stück als Metapher des unter dem  zivilisatorischen Druck stehenden Menschen,  steht. Wieder als ganzes Wesen sichtbar, wird nun von Minute zu Minute deutlicher, was der Titel „Press“ bedeutet. Press – der Druck oder drücken – erstens tatsächlich im physischen Sinne – den die Decke hört nicht auf,  sich zu senken. Bis nur mehr so ein kleiner Raum übrig bleibt, dass Rigal darin sich nur mehr liegend fortbewegen kann. Press aber auch im psychischen Sinne, denn die Umgebung und die Ausstrahlung lassen seinem Bild des Menschen bis zur letzten, bitteren Konsequenz hin keinen Raum – nicht zum Bewegen, nicht zum Atmen und nicht zum Leben. Pierre Rigals Bewegungen grenzen an Akrobatik und vermitteln streckenweise den Eindruck, dass er sich im schwerelosen Raum oder im Wasser befände. Wie er sich von einer Zimmerwand zur nächsten am Boden liegend abstößt um sich sofort zu wenden und wieder mit Wucht in seine Ausgangsposition zurückzugleiten -  das sind bisher noch nie gesehene Bewegungsmomente voll Poesie und Kraft zugleich. Sein „Haltung-bewahren“ in auch noch so aussichtslosen Situationen – und das wiederum im wahrsten Sinne des Wortes – geht zu Herzen und transportiert überdeutlich, dass die Konformität einerseits eines unserer gesellschaftlichen Grundübel darstellt, der Mensch aber andererseits auch in schlimmen Momenten bestrebt ist, seine Würde nicht zu verlieren.

Die Leistung Pierre Rigals besteht nicht nur aus einer Körperarbeit, die sich aus einem enorm analytischen Zugang zu dieser Performance speist. Jede Bewegung ist darauf ausgerichtet, beim Publikum den Eindruck zu erwecken, als wäre sie, so absurd und unmöglich sie auch ist, völlig selbstverständlich. Die Bilder, die er damit evoziert, sind scharf konturiert und mit Langzeitwirkung ausgestattet. Seine Leistung besteht aber auch darin, neben dieser Performance eine Ebene in das Stück einzuziehen, die weit über das Körperliche hinausgeht. Mit der Warnung und Mahnung, die er dem Publikum präsentiert, muss es schließlich selbst umgehen. Rigal bietet keine Lösung, hinterlässt aber durch seine Destruktion eine konstruktive Verstörung, der man nur entkommen kann, wenn man sich seinen eigenen „press-ures“ offensiv stellt.

Mélanie Chartreux stand Pierre Rigal bei der Ausarbeitung seines Stückes künstlerisch beratend zur Seite und mit Nihil Bordures, der für die Musik verantwortlich zeichnet und Frédéric Stoll, der die verrückte, lebende Box gestaltete, war ein Team am Werk, das sich in seiner Arbeit meisterhaft ergänzte. ´Cie dernier minute, wie der genaue Name der Compagnie lautet, adelte das Pôle-Sud in Straßburg mit seinem Halt und steuerte in dieser Saison einen weiteren Höhepunkt für dieses lebendige Veranstaltungszentrum bei.

„“´ôü„“üää„“üüüüöüääääöä éééô´ Datum der Veröffentlichung: 18 März 2010
Verfasser: Michaela Preiner
In folgenden Kategorien veröffentlicht: Theater | Tanz

Schlagwörter: Frédéric Stoll, Mélanie Chartreux, Nihil Bordures, Pierre Rigal, Pôle Sud Strasbourg, ´Cie Derniere Minute

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