Vertrautes unverstehen

Einige Zeit zuvor: Herr L. und ich schlendern durch Vollzivilisation und versuchen, alle Weihnachtsgeschenke zusammenzubekommen.
„Weißt Du“, sinniere ich, „Du kennst doch GanzLiebeFreundin, oder?“
„Jaaa?“
„Du, habe ich Dir je erzählt, dass die jedes Jahr wen zu Heilig Abend zu sich nach Hause einladen?“
Herr L. schaut mich stirnrunzelnd an. „Und wen? Verwandtschaft oder wen?“
„Nee“, ich schüttle den Kopf. „Wen nicht-verwandtes, das ist es ja! Flüchtlinge oder Asylbewerber, sowas in der Art. Menschen, die ihre Familien zurücklassen mussten und keinen hier haben. Ist das nicht toll? Ich finde das sehr beeindruckend!“
„Ja, das ist sehr nett von denen“, nickt Herr L. „Aber warum erzählst Du mir das?“
Ich strahle. „Na weil ich mir überlegt hatte, dass wir das doch auch machen könnten! Jetzt, da wir so viel haben! Schau, wir haben genug Geld und Platz und …“
… dann folgt ein Ehekrach, der sich gewaschen hat.
Auf meiner Seite befinden sich Argumente wie „Wir sind das ganze Jahr unter uns, da braucht es den einen Tag doch nicht auch so zu sein“, „Fest der Nächstenliebe“, „Teilen“, „Mitgefühl“ usw.
Herr L.s Argumente sind dünn bis nicht vorhanden, seine Verweigerung dafür umso hartnäckiger und mein Staunen umso größer: Herr L. ist einer der besten, nettesten, großzügigsten Menschen, die ich kenne – was ist bloß los mit ihm?
Wir kommen nicht weiter und brechen die Diskussion ab. Die Missstimmung tut uns beiden weh, aber Herr L. verweigert jeden Kompromiß und ich verstehe garnichts mehr.

Einen Tag später – wir sind stillschweigend überein gekommen, das Thema vorerst nicht mehr anzuschneiden, aber ich habe noch immer einen unschönen Streit-Kater – fahre ich im Auto durch die Gegend. Das Radio dudelt und plärrt und irgendwann kommen die Nachrichten. Irgendein Mensch irgendeiner Partei hat irgendeine Idee bezüglich der Organspende, die hierzulande angeblich zu selten praktiziert wird.
Ich bin neugierig und drehe den Ton auf. Soweit ich weiß, benötigt es einen Organspendeausweis oder eine sonstwie schriftlich niedergelegte Willenserklärung bzw. falls das nicht mehr geht die Aussage des zuständigen Rechtsvertreters, damit sie – nach dem doppelt bestätigten Hirntod – einen ausweiden einen ausnehmen einem Organe zur Spende entnehmen dürfen.
Jetzt ist aber dieser eine besagte Mensch auf die Idee gekommen, den Hasen anders herum hoppeln zu lassen und schlägt vor, jede Nichtäußerung zu diesem Thema als positive Willenserklärung werten zu lassen; wer nicht Organspender sein möchte, könne das ja (in einem Nichtspenderausweis?) schriftlich festhalten.
Ich glaub, dem hammse ins Hirn gesch*ssen! Klar, dass sich so die Anzahl der (unfreiwilligen) Organspender erhöhen würde, Du A*sch!
Ich kann nicht anders, als erstmal rechts ran zu fahren, so sehr rege ich mich grade auf! Wie kommt dieser dreiste Mensch auf so eine beknackte Idee? Gut, er hat es wahrscheinlich nett gemeint. Gilt auch für Mittleres, wenn es die Tapete „verschönert“: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht!
Mal ehrlich, man hat so einen Einfall, denkt zwei Sekunden drüber nach, merkt dann, wie besch*ssen er ist und verwirft ihn wieder! Wie kann man so etwas denn allen Ernstes vorschlagen???
Ich habe nichts gegen Organspende, keineswegs, super Sache, aber ICH! WILL! NICHT!
Und es geht mit sowas von auf den Senkel, dass die Diskussion immer mehr in die Richtung geht, dass ICH mich dafür RECHTFERTIGEN soll, dass ICH MEINE (!!!!) EIGENEN (!!!!) Organe behalten will! Da wird einem ja mittlerweile echt ein schlechtes Gewissen eingeredet, man wird als egoistisch dargestellt und argumentativ und moralisch in die Enge getrieben, das steht mir bis hier Oben! Man wird doch als Nicht-Spender immer mehr in die Defensive gedrängt. Und argumentativ habe ich nunmal nicht viel zu bieten außer „Ich möchte das einfach nicht!“
Aber muss ich denn auch mehr zu bieten haben? Es sind MEINE verdammten Organe, MEINE! Und die will ich behalten! Und ich sollte mich dafür verdammt nochmal nicht rechtfertigen müssen!

Ich atme ein paar Mal tief durch, steige ins Auto und fahre nach Hause. Dort gehe ich zu Herr L. und sage: „Ich verstehe Dich jetzt, es tut mir leid. Wir werden Heilig Abend unter uns bleiben.“
Herr L. lächelt und der Streit ist endlich beglichen. Und ich weiß, es wird noch viele Gelegenheiten und vor allem andere Arten geben, anderen Menschen Gutes zu tun. Und dieses Wie muss jeder für sich selbst entscheiden.


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