Tag 3 – Von Osmotherley nach Carlton Bank (13 Kilometer)

In der Nacht bleibt mein Zelt so kuschelig warm, dass ich, ohne auch nur einmal wie sonst vor Kältestarre wach zu werden, bis neun Uhr durchschlafe. Da ich keine Lust habe fürs Frühstück noch einmal bis in den Dorfkern zurückzuwatscheln, stopfe ich mir nur einen Snickers und einen Porridgeriegel in die Backen und ziehe los. Es geht steil hinauf in das Waldgebiet von South Wood, durch das sich der Pfad urwaldartig durch hohes Farnkraut und Heidelbeerbüsche schlängelt. Irgendwo hier trifft der Cleveland Way auf den Coast-to-Coast-Trail. Dann erreiche ich den Gipfel von Beacon Hill und passiere eine umzäunte Sendestation mit gigantischen Funkmasten. Ein recht eigenartiger Ort für so viel technisches Equipment innerhalb eines Nationalparks, der sich ansonsten recht natürlich gibt. Auf der nächsten Lichtung erhasche einen atemberaubenden Blick auf die sich sanft in den Himmel erhebenden Cleveland Hills und verharre für eine Weile in der Schönheit dieses Augenblicks.

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Der Trigpoint auf Beacon Hill. Im Hintergrund die Cleveland Hills.

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Doch es kommt noch besser: Ich folge einem breiten Sandweg durch Scarth Wood Moor und mein Herz quellt über vor Glück. Ich bin mir sicher, dass ich das englische Moor noch nie so friedlich und vollkommen gesehen habe. Auch heute treffe ich keinen einzigen Cleveland-Way-Walker, dafür aber eine Menge lokaler Spaziergänger, die allesamt zu einem Pläuschen aufgelegt sind. Zwei Sprinter joggen an mir vorbei und versichern mir lächelnd: „Bis Carlton Bank ist es nicht mehr weit.“ Ja genau, mit 30 km/h sicherlich.

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In sanften Linien verläuft der Cleveland Way über Scarth Wood Moor.

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Zum ersten Mal bin ich sogar von den Schafen verlassen, ohne deren Begleitung mir heute ganz schön was fehlt. Dafür treffe ich auf dem nächsten Hügel einen halbnackten Engländer, der stolz seinen Hund und nackten Oberkörper spazierenführt. Ich habe mir gerade meine Jacke übergestülpt, weil es hier oben mächtig stürmt und der Typ schwitzt sich hier draußen einen ab. Als ich den sagenhaften Blick ins Tal von Faceby Bank genieße passiert es, mein Smartphone plumpst aus der Hülle und schlägt mit einem dumpfen Knall auf einen Stein auf. Das war’s, meine Kamera ist damit pfutsch und alle meine bisher geknipsten Bilder passé. Ich bin entsprechend geknickt als ich am Fuß von Carlton Bank im Lordstones Café and Country Park eintreffe.

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Der steile Abstieg von Carlton Bank.

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Im Biergarten tümmeln sich zahlreiche Ausflügler im Sonnenschein. Das Café verfügt über einen angeschlossenen Campingplatz mit etwas schmuddeligen Duschen und Toiletten. Zehn Pfund zahle ich an der Bar für eine Nacht und kann mir dafür ein beliebiges Rasenstück aussuchen, denn auf dem großzügigen, kreisförmig angelegten Gelände steht gerade mal ein weiteres Zelt. Doch die schlechte Nachricht folgt auf dem Fuß: Das Café serviert nur noch bis viertel vor vier und schließt ab fünf bereits seine Pforten. Es bleiben mir also wieder mal nur zwanzig Minuten, um mein Zelt aufzubauen und mich präsentabel zurechtzumachen. In der Dusche lauert eine riesige Spinne auf Beute und ist plötzlich verschwunden. Ich verzichte also auf eine ausgedehntes Erfrischungsprozedur und ziehe mir nur schnell was Sauberes über. Zum Glück gibt es neben dem Café einen kleinen Shop mit allerlei überteuerten Delikatessen. Um mir später ein Notabendbrot zubereiten zu können und für den nächsten Tag versorgt zu sein, raffe ich auf die Schnelle ein füllendes Mahl zusammen: eingeschweißter Hartkäse, ein Becherchen Humus und ein Sechserpack Bürgerbrötchen. Das sollte reichen. Kurz vor Ladenschluss bestelle ich an der Bar das billigste Gericht auf der Karte und erhalte eine grün-breiige Suppe und einen dicken Kanten Leinsamenbrot mit gesalzener Butter. Es dauert nicht lange, bis mir von dem schleimigen Eintopf mächtig übel wird. Versorgungstechnisch ist der Cleveland Way wirklich stark ausbaufähig. Aus Gewichtsgründen habe ich auf meinen Kocher verzichtet, nun bereue ich meine Entscheidung bitter. Zum Glück kann ich mich in eine schummrige Ecke verkrümeln, in der ich nicht wie überall sonst von skeptischen Ausflüglern gemustert werde. Schon wieder fühle ich mich völlig deplatziert zwischen herausgeputzen älteren Herrschaften in meinen Badelatschen und der schlabbrigen Wanderkluft. Wo sind denn bloß all die anderen Hiker? Läuft denn niemand sonst den Cleveland Way?

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Zurück in meinem Zelt versuche ich noch einmal, mein Smartphone zum Laufen zu kriegen. Doch mein wildes auf allen Tasten Herumgedrücke bringt absolut gar nichts. Verdammt! Macht diese Wanderung ohne Kamera denn überhaupt noch einen Sinn, schließlich wollte ich einen Artikel schreiben und meinen Blog auffüllen, Erinnerungen herumzeigen. Vielleicht fahre ich einfach in den nächstgrößeren Ort und kaufe mir eine Kamera? Oder fahre ich nach Hause, versuche mein Telefon reparieren zu lassen und komme dann wieder her? Oder gebe ich auf und lasse dieses Wandern endgültig sein? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass ich allein keine vernünftige Entscheidung treffen kann. Ich will mir Rat bei meinem Engländer holen. Zum Glück habe ich ein einfaches Nottelefon dabei. Doch das kündigt mir per SMS an, dass mein Prepaid-Guthaben nur noch ganze 84 Cent beträgt. Außerdem ist der Akku fast leer und ich habe keine Möglichkeit, ihn aufzuladen. Vergeblich versuche ich das blöde Ding über einen Anruf bei der Servicehotline aufzuladen. Dazu muss ich mich fünfhundert Meter weiter, vors Toilettenhäuschen in den Regen stellen, da ich dort den besten Netzempfang habe. Die Computerstimme führt mich durchs Menü, doch als ich das Verfallsdatum meiner Kreditkarte über die Handytastatur eingeben soll, scheitere ich am Schrägstrich, den ich während eines Telefonats nicht eingeben kann. Die Leitung wird getrennt. Beim nächsten Anruf will man ausgerechnet meine Postleitzahl wissen. Die aber besteht aus lauter Buchstaben. Während eines Telefonats kann ich aber nur Zahlen eintippen. Aufgrund meiner unvollständigen Angaben werde ich zum Callcenter durchgestellt. Dort lausche ich etwa 15 Minuten lang den neuesten Hip-Hop-Klängen. Mein Guthaben ist inzwischen auf 50 Cent gesunken. Das wird so nichts. Da fällt mir meine Schweizer Freundin Andrea ein, die mir damals das Handy gekauft und übers Internet aufgeladen hat, damit ich auf dem Pennine Way abgesichert bin. Ich schicke ihr eine SMS und siehe da, innerhalb von weiteren 15 Minuten ist mein Handy wieder aufgeladen. An dieser Stelle nochmals allerliebsten Dank, liebe Andrea! Du hast mich aus einer wirklich deprimierenden Lage gerettet.

Ich entscheide mich, erstmal die Nacht abzuwarten und telefoniere gegen 2 Uhr noch knapp mit meinem Engländer. Der versteht überhaupt nicht, warum ich „wegen ein paar Bildern“ so ein Drama mache, aber ich müsse selbst entscheiden, was ich tun will. Er wäre auch nicht traurig, wenn ich nach Hause käme. Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist meine Entscheidung gefallen. Ich fahre nach Hause. Im Café, das um neun öffnet, lade ich erstmal mein Nottelefon auf, bestelle mir eine große Tasse Café und knabbere an einem Käse-Scone. Dann schnalle ich meinen Rucksack auf und beschließe: „Nee, ich bin doch nicht bescheuert, ich werd doch nicht wegen einer Kamera nach Hause fahren. Ich gehe weiter, dann eben ohne Bilder. Was soll`s.“



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