Stuttgart 21, Demokratie und Bürgerbeteiligung

Die Proteste gegen Stuttgart 21 offenbaren eine Schwäche des deutschen Demokratiemodells: das Fehlen partizipativer Elemente. Es wird Zeit, über unsere Demokratie zu sprechen.

Stuttgart 21, Demokratie und Bürgerbeteiligung
Quelle: kopperschlaeger.net / CC-BY-NC-ND 3.0

Dass sich gerade bei Stuttgart 21 derart große Proteste, wie sie die letzten zeigten, zustande kamen, mag erstaunen, ist aber vielleicht auch nur ein Symptom wachsender Unzufriedenheit, mit den politischen Entscheidungen und stärker noch mit der Art ihres Zustandekommens. Durch das überaus gewaltsame Vorgehen der Polizei bei den Proteste wird es nun  ganz und gar offensichtlich, welch ein ein unhaltbarer Zustand einer Demokratie es ist, wenn die delegierten Entscheidungsträger weitgehend autonom von gesellschaftlicher Rückkopplung und Zustimmung handeln, und wenn sie dann ihre Entscheidungen dann auch mit Gewalt gegen das Volk durchbringen wollen – mit der Rechtfertigung, es sei ja alles formal korrekt zustande gekommen und müsse nun durchgesetzt werden.

Ob Atomkraft, Hartz IV, Kopfpauschale: Gerade die jetzige Regierung zeigt indes überdeutlich, dass sie aber auch überhaupt nicht gewillt ist, ihre Politik auf der Zustimmung oder auf dem Wohl der Bevölkerung basieren zu lassen. Möglicherweise könnten sich Proteste in Zukunft stärker auf die Straße verlagern angesichts der fehlenden direktdemokratischen und partizipativen Elemente in der bundesdeutschen Repräsentativdemokratie, die eine von deren deutlichsten Schwächen darstellt.

Aus  Sicht der politischen Theorie könnte man sagen, dass man hier wieder erkennen kann, dass in einem liberalen Demokratiemodell (oder zumindest dessen versuchter Annäherung) eben immer wieder der Fall ist, dass sich mächtige Interessengruppen gegen die Bevölkerungsmehrheit durchsetzen.  Gleiche Chancen miteinander konkurrierender Interessengruppen werden nie herzustellen sein, und so kann auch eine kleine Gruppe die politischen Entscheidungsträger derart beeinflussen oder geradezu direkt beherrschen, dass die Mehrheit der Bürger ignoriert wird.

Unser politisches System reduziert sich seit langem auf die Herstellung von durchsetzbaren Entscheidungen, es vernachlässigt aber kommunikative, partizipatorische Elemente, wenn es sie nicht vollständig ignoriert. Dass dieser Staat und auch diese Gesellschaft Ideen wie zumindest die Suche nach einem Allgemeinwohl (Republikanismus) oder nach einem Kompromiss oder gar einem Konsens nach einer ausführlichen Diskurs in der Zivilgesellschaft (Habermas) schon lange fast vollständig aufgegeben hat, zeigt nun seine Folgen. Die Verteuflung jeglicher auch nur ansatzweise “Rousseuscher” Gedanken, und der Versuch, eine “Konkurrenzdemokratie” als einzig wahre Demokratie darstellt, ist vielleicht doch etwas zu kurz gegriffen. Und die Gedanken von Habermas und der deliberativen Demokratie sollten heute aktueller denn je sein.

Es spielt jetzt politisch keine große Rolle, ob Stuttgart 21 nun sinnvoll ist oder nicht, dass ist ein anderes Thema, dass einer eigenen Diskussion bedarf. Das Problem ist, dass eben diese Diskussion nicht in der öffentlichen Zivilgesellschaft stattgefunden hat. Stattdessen wurden von der Politik geradezu knebelnde Entscheidungen getroffen, die das Volk hinzunehmen hatte. Hätte man sich mit den Gegnern des Projekts zusammengesetzt, ernsthaft ihre Argumente angehört, die eigenen geschildert, wäre es sicher zu keinem Konsens gekommen – aber, selbst wenn es dann eine Pro-Entscheidung gegeben hätte, hätte diese eine sehr viel höhere demokratische Legitimation gehabt, und die Proteste wären sicherlich in einem sehr viel kleineren Rahmen geblieben.

Aber solch ein Verfahren ist in Deutschland nicht vorgesehen, also wird es gar nicht erst versucht. Das Entscheidungsverfahren soll allein in den Parlamenten beheimatet sein. Durch die ganz überwiegend rein repräsentative Ausrichtung unserer Demokratie ist ohnehin ein direkter Einfluss der Bevölkerung sehr schwer. Man begnügt sich als Legitimation für Entscheidungen auf ein formal richtiges Zustandekommen im parlamentarischen Prozess. Kommt es trotz in den meisten Bundesländern hoher Hürden  doch einmal zu Volksentscheiden, wurden diese mitunter sogar ignoriert. Andere Partizipationsmöglichkeiten gibt es kaum, außer einiger Modelle auf lokaler Ebene.

Doch die Argumente der Gegner von der Einführung von Formen und Elementen direkter Demokratie (und dies auch auf Bundesebene), wie die der fehlenden technischen Machbarkeit, werden heute immer mehr ad absurdum geführt. Gerade das Internet böte Möglichkeiten einer Partizipation der Gesellschaft, wie man sie sich so in der Vergangenheit kaum vorstellen konnte. Neue Formen der Einbindung der Bevölkerung in die politische Diskussion, aber auch neue Formen der Bürgerbeteiligung an der Entscheidungsfindung wären heute so realistisch und einfach durchsetzbar wie sie es nie zuvor in der Geschichte waren. Doch die politisch Verantwortlichen, vor allem die Parteien,  fürchten, dass alt hergebrachte Eliten-, Macht-, und Herrschaftsstrukturen und -institutionen durch eine immer größer werdende Bürgerbeteiligung aufgelöst werden könnten und möchten am liebsten bei einer rein repräsentativen Variante von Demokratie verbleiben – und diese, wie man gesehen hat, notfalls gewaltsam durchsetzen.

Es wird Zeit, über unsere Demokratie zu reden: Über Entscheidungsstrukturen, über den Einfluss von Lobbyisten, über Zivilgesellschaft und den öffentlichen Diskurs, über Modelle der Bürgerbeteiligung und der direkten Demokratie. Ansonsten werden solche Bilder wie in Stuttgart zukünftig vielleicht noch öfter zu sehen sein.

Es mag vielleicht zynisch klingen, aber vielleicht hat das gewaltsame Vorgehen der Staatsmacht gegen friedliche Demonstranten, Rentner, Jugendliche und Kinder, dabei auch etwas Gutes. Vielleicht versteht die bürgerliche Mitte jetzt etwas besser, was Polizeigewalt bedeutet, kann besser nachvollziehen, wie es ist, wenn die Polizei auf diese Art sonst auf Demonstrationen gegen Nazis, gegen Krieg, von Globalisierungskritikern oder Umweltschützern vorgeht. Vielleicht erkennen sie nun etwas mehr vom wahren Charakter dieses Staates.

Ob durch die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 aber auch tatsächlich so etwas wie eine neue Protestkultur oder eine zivilgesellschaftliche Demokratisierungsbewegung erwachsen kann, bleibt aber wohl erst einmal abzuwarten. Zu begrüßen wäre es.

Zum Thema:

Ohnmacht, Wut und repräsentative Demokratie (Felix Neumann)

Der Bahnhof des himmlischen Friedens (Spiegelfechter)

Proteste gegen Suttgart 21 Demo, Demos, Demokratie (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung)


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