Staat ohne Land - Kurzgeschichte von Elk von Lyck

Staat ohne Land - Kurzgeschichte von Elk von Lyck

Staat ohne Land
Der alte Mann bat seine Kinder und Enkel, Platz zu nehmen. Er selbst saß bereits seit Jahren im Rollstuhl, und er wusste, ihm würde nicht mehr viel Zeit bleiben. Deshalb verkündete er nun endlich seinen Plan: Er wolle einen neuen Staat gründen.
Die Kinder und Enkel lachten darüber. Es gab doch gar kein freies Land mehr, erinnerten sie ihn. Damit der Plan gelänge, müsste man eine Insel im Meer aufschütten oder mit einem anderen Staat einen Krieg beginnen, um dessen Land zu rauben. Doch dafür fehle dem alten Mann die nötige Armee, sagte einer der Söhne. Und sie zählten noch mehr Dinge auf, an denen es mangelte: eine Industrie, zur Versorgung der Armee mit Waffen und Munition, ein Behördenapparat, zur Verwaltung des neuen Landes, dann müsste man Städte und Dörfer bauen, dazu Verkehrswege, um die Ortschaften miteinander zu verbinden, und natürlich bräuchte man eine Landwirtschaft, Energieversorger, Telekommunikation, und ein bisschen Kultur wäre auch nicht schlecht, vielleicht ein paar Theater und Museen.
Der alte Mann fragte die Kinder und Enkel, ob sie nicht etwas vergessen hätten. Sie sagten nein, alles Wesentliche sei genannt worden.
Die Menschen fehlen, sagte er. Das Volk. Genau das sei das Besondere an seinem neuen Staat, er hätte ein Volk – aber kein Land. Jeder Mensch auf der Welt könne sich selbst zum Einwohner des neuen Staates erklären. Vom ersten Moment an hätte er Anspruch auf Unterhalt. Und zwar so viel, wie er zum Leben benötige. Der Staatsbürger solle genügend Geld bekommen für Essen, Kleidung, Wohnen und Gesundheitsvorsorge. Dabei müsse er seine angestammte Heimat aber nicht verlassen.
Die Kinder und Enkel dachten einen Moment nach – und wieder brachen sie in Gelächter aus. Auch das sei unmöglich umzusetzen. Dann würde doch niemand mehr arbeiten, sagten sie. Falsch, entgegnete der alte Mann, man müsse die Arbeit nur anders gestalten, sie solle Freude statt Frust bereiten. Außerdem deckten die Unterhaltszahlungen ja nur den Mindeststandard. Wer mehr Geld haben wolle, müsse eine entsprechende Mehrleistung erbringen, so wie bisher auch.
Eine Enkelin fand die Idee eigentlich gar nicht so schlecht. Angenommen, sagte sie, es gäbe so einen Staat tatsächlich. Dann müsste sich kein Mensch mehr Sorgen um seine Zukunft machen, darüber, ob er morgen noch einen Arbeitsplatz besäße, ob seine Wohnung sicher sei oder ob er genügend Essen für die Familie auf den Tisch bringen würde. Niemand müsste mehr hungern. Niemand müsste stehlen, niemand müsste sich prostituieren, um zu überleben. Niemand müsste seine Heimat verlassen und sich auf eine gefahrvolle Reise in ein fremdes Land begeben, in dem er nicht willkommen ist. Viel weniger Menschen würden Drogen nehmen, um einer hässlichen Wirklichkeit zu entfliehen. Die Menschen hätten mehr Zeit. Und mehr Energie. Anstatt sich auf die reine Sicherung ihrer Existenz zu konzentrieren, könnten sie sich mit anderen Dingen beschäftigen. Viel mehr Kinder würden die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Und obendrauf eine gute Schulbildung, denn das Argument „Wir können uns das nicht leisten!“ wäre entkräftet. Welche Folgen hätte das wohl? Das Potenzial von Millionen, sogar Milliarden zusätzlicher Menschen könnte genutzt werden, viele neue Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler und Künstler würden die Welt bevölkern. Eine Flut von Erfindungen und Entdeckungen würde sich über uns ergießen, dazu Kunstwerke aller Art, und es würde weniger Krankheiten geben...
Moment, Moment. Die Kinder und Enkel unterbrachen den alten Mann und die junge Frau. Das sei ja alles schön und gut, aber auch eine sinnlose Spinnerei, denn der Plan zur Gründung eines solchen Staates ließe sich niemals umsetzen. Wahrscheinlich kämen aus der ganzen Welt Millionen Faulpelze herbeigelaufen, um das Geld abzukassieren – und das wiederum würde hunderte Milliarden kosten, es wäre also gar nicht zu finanzieren. Auf dieses Argument war der alte Mann vorbereitet. Natürlich gäbe es zu Anfang einige Schwierigkeiten, gewiss würden sich viele potenzielle Staatsbürger melden und das Kapital knapp bemessen sein. Deshalb müssten die ersten Staatsbürgerschaften verlost werden. Außerdem hätten bereits einige Milliardäre ihre Absicht bekundet, ihr Vermögen zu spenden, zur Hälfte oder vollständig, sofort oder nach ihrem Tod. Diese Leute müsse man in das Projekt einbinden. Und um zu zeigen, dass es ihm, dem alten Mann, ernst war, verkündete er, mit gutem Beispiel vorangehen zu wollen. Noch am selben Abend wolle er sein Vermögen dem neuen Staat überschreiben.
Nun verging den Kindern und Enkeln das Lachen. Dein Vermögen, fragten sie. Also das der Familie? Also... unser Geld?      
Ja, sagte er. Unser Geld. Aber sie sollten sich keine Sorgen machen. Seinen Kindern und Enkeln wolle er die ersten Staatsbürgerschaften erteilen. Sie würden also immer genügend zu essen haben, dazu ein Dach über dem Kopf, und auch im Fall einer Erkrankung könnten sie sich den Arzt und die Medikamente leisten.
Aber was ist mit der Villa, den Autos und den Gemälden, fragten sie. Und den Aktien und Wertpapieren? Und dem Bargeld, dem Schmuck und all den anderen Sachen? Insgesamt ging es um Werte in Milliardenhöhe.
Das gehört bald alles dem neuen Staat, lautete die Antwort.Die Kinder und Enkel zogen sich zur Beratung in ein Nebenzimmer zurück. So geht das doch nicht, sagten sie. Der Alte sei nicht mehr er selbst. Er hätte sich verändert, sei geradezu gemeingefährlich geworden. Man müsse ihn vor sich selbst schützen. Und das Vermögen, das müsse man auch schützen, es gehöre schließlich der Familie.
Ein Arzt muss her, forderte eine Tochter. Der Geisteszustand des alten Herrn solle überprüft werden. Und wenn nötig, müsse man ihn entmündigen. Alles sprach dafür, dass er nicht bei Sinnen sei. Einen eigenen Staat gründen, so etwas machten doch nur Verrückte. Was würde er wohl als nächstes tun? Wahrscheinlich vom Dach springen und mit den Armen flattern wie ein Vogel. So etwas könne ja nur in der Katastrophe enden.
Ein Sohn schlug vor, eine Abstimmung zu machen. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: alle waren dafür, keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. Aber fehlte da nicht jemand? Sie zählten rasch durch. Tatsächlich, eine Enkelin fehlte. Ausgerechnet jene, die dem Alten vorhin zur Seite stand. Wo steckte er überhaupt? Die Kinder und Enkel durchsuchten das Haus, fanden sie aber beide nicht. Auch im Garten waren sie nicht, nicht im Schwimmbad, in der Sporthalle und im Wintergarten. Am Garagentor hing ein Zettel. Darauf stand: „Wir sind schon mal losgefahren. Ihr könnt ja später nachkommen.“
„Wohin?“, fragten die Kinder und Enkel.             
Autor: Elk von Lyck ------------------------------------------------------------------------------------Unter diesem Link finden Sie das Konzept Staat ohne Land in sachlicher Form.

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