Screenology #46: Incendies

Screenology #46: Incendies

(Collage: Emma Isacson)

Es ist nur gerecht, dass sich nun meine Mutter ihrerseits einen Film erquengelt. „Das wird dich auf andere Gedanken bringen“, sagt meine Mutter. Ich zucke mit den Schultern, rümpfe die Nase. „Aber du magst doch Arabien.“ Den letzten Film, den wir zusammen im Kino gesehen haben, war E.T. Und den habe ich mir mit Frauenfürzen im Kühlschrank erbombt. „Kaufst du mir in der Pause Eispralinen?“, frage ich scherzhaft. Aber meine Kicherlaune verpufft mitten im Satz. Damals, als ich Vanessa kennen gelernt habe, begann alles, weil sie mir Eispralinen anbot.

Incendies war für den Oscar nominiert“, sagt meine Mutter, als wir im Kinosaal sitzen – in der Annahme wohl, dass mich das in irgendeiner Weise beeindrucken würde. „Bester nicht-englischsprachiger Film.“ Ich grunze Zustimmung.

In Kanada stirbt eine Mutter arabischer Herkunft. Sie hinterlässt ihren Zwillingen Jeanne und Simon zwei Briefe. Einen an den Vater, den sie für tot hielten. Einen an den Bruder, von dessen Existenz sie keine Ahnung hatten. Simon ist beleidigt. Jeanne reist in den Nahen Osten, sucht nach Hinweisen und entdeckt die Biografie ihrer Mutter: eine geheim gehaltene Geschichte unsagbarer Schmerzen und Leiden. Simon muss her. Simon kommt. Zusammen dröseln sie die Verstrickungen des Hasses auf und überreichen die Briefe.

„Ui nein.“ Meine Mutter kommentiert die Szenen, als sässe sie zu Hause vor dem Fernseher und als wünsche sie sich ein Zeichen der Anteilnahme von Seiten meines Vaters. „Siehst du, wie brutal die sind? Und dann kommen sie und wollen Asyl. Denen würde ich…“ Manchmal stellt sie Fragen. „Ist das der gleiche Mann wie vorhin?“ Dass ich nicht reagiere, scheint sie nicht zu stören.

„Ist die Geschichte wahr?“, fragt sie mich am Ende. Ich antworte: „Menschen bringen sich um. Tag für Tag. Das ist wahr. Sie bringen sich um, um die Ehre wieder herzustellen. Weil Macht auf Ohnmacht trifft. Weil das Pendel der Gewalt im Vakuum des Selbstentwurfes keine heilende Reibung erfährt.“ Sie schaut mich an. Ich sage: „Nein, sie ist nicht wahr. Sie ist die Verfilmung eines berühmten Theaterstücks von Wajdi Mouawad. Wie hat dir der Film gefallen?“

„Ich weiss nicht. Ich möchte nicht sehen, wie Kinder erschossen werden. Ich möchte nicht zuschauen, wie Frauen vergewaltigt werden. Und sowieso: Man nimmt keiner Mutter das Kind weg. Lass uns nach Hause gehen.“

Meine Mutter steuert das Auto aus der Tiefgarage, drängt sich vor den Bus auf die Hauptstrasse und winkt freundlich dem Chauffeur zu. Ich sage: „Die ersten 110 Minuten fand ich atemberaubend spannend. Beklemmend, berührend, erschütternd und ehrlich. Nie fühlte ich mich von Sentimentalitäten manipuliert. Aber die letzten 20 Minuten haben mich durch ihre kapriziöse Konstruiertheit vor den Kopf gestossen. Plötzlich winkt der Drehbuchautor triumphierend mit seinem ausgeklügelten Schluss, der dem Film jede Glaubwürdigkeit raubt. Hallo, ich bin nur eine Geschichte. Hallo, da wärt ihr nie draufgekommen, dass… Bin ich nicht klug, dass ich euch an der Nase herumführen konnte. Das hat der Film nicht nötig. Das ist schade um die gelungenen Charakteren und die genialen Schauspieler. Das ist schade um die vorsichtige und wirkungsvolle Erzählweise der ersten Hälfte. Schade um die sehr sorgfältigen und authentischen Filmbilder.“

Ich schaue zu meiner Mutter, die Ampel schaltet auf Grün, wir holpern über die Kreuzung. Meine Mutter wendet mir den Kopf zu, lächelt und sagt: „Was ich dir noch sagen wollte, diese Vanessa, nun ja, ich weiss nicht, ob die gut für dich ist. Berlin. Meinst du nicht, es gäbe noch ein hübsches Mädchen aus der Gegend?“

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Incendies, FR/CA 2010, Regie: Denis Villeneuve, Schauspieler: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette

Kinostart: 21. April 2011

 


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