Rückblende Mai 2001: Poesie-Polizei!

Im Mai 2001 starb  Johannes Poethen. Viele schreiben zum 100. Geburtstag von Rose Ausländer und zum 70. von Manfred Peter Hein. (Dieses Jahr haben wir also den 80.!) Eine „Renaissance der Deutschschweizer Lyrik“ beobachtet Reto Sorg in der NZZ in der Gestalt von Christian Uetz , Raphael Urweider und Armin Senser.

Bei Urs Engeler Editor erschien im Vorjahr Hans-Jost Frey: Vier Veränderungen über Rhythmus.

Ein Pfingstwunder ereignet sich beim Bremer Lyrikfestival. Keins aber ist es, wenn der Bremer Autor Michael Augustin schreibt, „daß alle zwölf Sekunden / irgendwo auf der Welt / ein Gedicht geschrieben / aber nur alle einhundertdreißig Minuten / eines gelesen wird“. Eher schon bei  Adrian Mitchell: „Lauter nackte Wörter und Leute tanzen zusammen. / Das gibt bestimmt Ärger. / Da kommt schon die Poesie-Polizei! / Einfach weitertanzen.“ Daß er schon 1965 in der Royal Albert Hall siebentausend Zuhörer begeisterte, konnte der Hörer sich auch im Bremer Schauspielhaus ausmalen.

Als Poesiepolizist gerierte sich in jenen Jahren Robert Gernhardt (wie später ein anderer als Lyrik-TÜV). Das hatte damals Konjunktur im Großfeuilleton. Christoph Schröder über Gernhardt:

Ein wenig anmaßend erscheint es zwar schon, wenn der selbst ernannte Lyrikwart Gernhardt in seiner privaten Versbau-Werkstatt ausgerechnet an einem Werk des vollendeten Stilisten Durs Grünbein herumbastelt, doch mit viel gutem Willen konnte man dabei noch einen selbstironischen Unterton heraushören.

Schärfer hier:

Robert Gernhardt spricht mit der „Weltwoche“ über die Lage der Lyrik. Statt alte oder neue Ordnungssysteme zu nutzen, produziere der „Mainstream“ ein „aufgeladenes Rauschen“. Für Anführer solchen Mainstreams erklärt er Thomas Kling sowie die diesjährige Büchnerpreisträgerin:

„Für einen komischen Autor ist es nahe liegend, die bewährten Techniken zu benutzen. Zudem: Keiner von ihnen käme mit diesem aufgeladenen Rauschen durch. Er will verstanden werden, und darauf kommt es beim Mainstream heutiger Lyrik überhaupt nicht an. Ich habe von der diesjährigen Büchnerpreisträgerin Friederike Mayröcker noch nie eine Zeile gelesen, die mich berührt, belehrt oder belustigt hätte. Aber ich kenne viele kluge Geister, die sich in   diese Texte rein- und sogar wieder rauslesen können.“ / „Weltwoche“ Nr. 21/01, 23.5.2001

Thomas Kling lebt noch, hält dagegen und macht sich stark für die poetische Avantgarde:

Er verabscheut die sichere Distanz nicht weniger als das gesponserte Experiment. Modische Posen für den risikolosen Erfolg sind ihm ebenso verhasst wie verklemmte Volksbildner. Wenn Thomas Kling vom allseits beliebten „Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden“ spricht, erfasst ihn, der von sich behauptet, gar kein „Avantgarde-Fetischist“ zu sein, heiliger Zorn. Denn die einst von der Gruppe 47 gesetzten literarischen Maßstäbe geisterten, so Kling in seinem Essayband „Botenstoffe“, immer noch durch Kritikerköpfe und seien dafür verantwortlich, dass die deutschsprachige Lyrik mindestens 15 Jahre auf der Stelle getreten sei.

Um dem von ihm konstatierten „Avantgarde-Bashing“ entgegenzutreten, entwickelt Kling auf mehr als 200 Seiten ein polyphones, sprach- und poesiegeschichtliches Netzwerk. Provokant und selbstbewusst schlägt er den Bogen vom Barock-Gedicht des 17. Jahrhunderts bis zur spoken poetry dieser Tage. Dabei spart er nicht mit Lob und Tadel. In teils kritisch-essayistischen, teils assoziativ-polemischen Betrachtungen und Notaten legt er seine poetischen Wurzeln frei, offenbart Affinitäten und Parallelen zu Vorbildern und Kollegen und demontiert Autoren bis zur Kenntlichkeit. / Thomas Kraft, Potsdamer Neueste Nachrichten 19.5.01

Auch Jörg Drews lebt noch und schreibt über  Helmut Heißenbüttel in der „Lyrikedition 2000″

Helmut Heißenbüttel hatte Möglichkeiten sich erobert, Bildlichkeit und die Erkenntnis der essenziellen Abstraktheit der gegenwärtigen Weltverhältnisse zu kombinieren, auch mit Zitaten anders umzugehen, fragmentiertes Zeiterleben, zersplitternde Erinnerungen und spöttisch- satirische Intentionen ohne leicht sentimentale Resttöne auszudrücken: Das so genannte „lyrische Ich“ tritt in den Hintergrund, und zugleich wird der unverwechselbare, der unterkühlte, trockene, fast vibratolose Heißenbüttel- Sound in sich gefestigt. Man braucht sich nur die „abendländisch“ beflissene, ängstliche Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Debatten damals vergegenwärtigen, um die Kühnheit ermessen zu können, mit der sich Heißenbüttel von „Chiffren“ und einem nur persönlichen Ton der Klage in wenigen Jahren wegbewegt hatte zu einer mehr als nur persönlichen Sachlichkeit, wie weit er sich vorangearbeitet hatte, beim Entdecken und Amalgamieren jener Möglichkeiten der Literatur, von denen die deutschen Autoren de facto für fast zwanzig Jahre abgeschnitten gewesen waren.

Der Neudruck von Kombinationen und Topographien wäre noch mehr zu begrüßen, wenn Hermann Kasacks Vorbemerkung präziser, nämlich mit allein möglichem Bezug auf die Kombinationen platziert wäre und wenn nicht beim Neudruck von „Lehrgedicht über Geschichte 1954″ die Schlusszeile der Originalfassung leider total weggefallen wäre; sie lautet: „nicht Rekapitulier bares“.

HELMUT HEISSENBÜTTEL: Kombinationen. Gedichte 1951/1954. – Topographien. Gedichte 1954/55. Reihe „Lyrikedition 2000″. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Verlag Buch & medi@, München 2000. 112 Seiten, 19 Mark. / JÖRG DREWS, SZ 12.5.01

Unter der Überschrift  “ 8 gegen 58. Der Georg-Büchner-Preis für Männer“ schreibt  Iris Radisch einen Kommentar zum Büchnerpreis für eine Frau – Mayröcker. Die Zahlen bezeichnen das Verhältnis weiblicher zu männlicher Preisträger. Ein schöner Satz: „Nicht selten tun die Frauen, wovon die Männer nur reden: die Welt auf den Kopf stellen.“

Auf  Münsters 12. Lyrikertreffen  trägt Urs Allemann seine Oden vor.

Dabei bediente sich Allemann Wortmonstren wie „schambergborstenstriegelnd“ oder Zeilen wie „glossokyprisch grr Gaumenglück“. Dieser Exzess des Amorphen innerhalb strenger Form macht wohl den Reiz für diejenigen aus, die einen Zugang zu diesen schwierigen Gebilden finden.

… Neben Herta Müllers famosen Bild-Schnipsel-Collagen-Gedichten blieb vor allem Dirk van Bastelaere aus Belgien in Erinnerung. Die wüsten Fabeln vom Heiligen Herzen des 40-jährigen kreisen im Abrechnungsgestus um den flandrischen Katholizismus, steigern sich dabei in Spiralen eines biblischen Aufzählungsfurors hinein und lassen ihre Zentrifugalkräfte auf den Leser wirken.

Als Höhepunkt des Treffens wurde Hugo Claus der „Münsteraner Preis für Europäische Poesie“ verliehen. Die mit 30 000 Mark dotierte Auszeichnung ist traditionell auch ein Übersetzerpreis. Maria Csollány und Waltraut Hüsmert erhielten ihn zusammen mit dem 1929 geborenen Belgier für den hervorragenden Auswahlband Gedichte. „Meine Verse vögeln nicht klassisch,“ heißt es zu Beginn des Bands.

Und von Alexander Nitzberg ein gutes Gedicht:

Chinesischer Teeladen

Regale. Bretter.
Blätter. Legale
Arten, sich zu berauschen.
Tu belauschen die alten
Chinesen.
Willst du ? du wirst
genesen.

 



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