Rezension: Thomas Weiss – Flüchtige Bekannte (Berlin-Verlag, 2014)

Der vierte Roman des deutschen Autors Thomas Weiss (*1964) erzählt die packende Geschichte  von Maren Schulz, die ihre Verpflichtungen als Ehefrau und Mutter zurücklässt, um selbst über ihr Leben bestimmen und glücklich werden zu können. Der Journalist Joachim schreibt eine Reportage über ihr Veschwinden, findet sie schliesslich in einem Clubhotel in Tunesien und beginnt sich, über sein eigenes Leben Gedanken zu machen. Ein hervorragender Text über die Entscheidung für oder gegen das ganz persönliche Glück.

Joachim ist Filmkritiker, selten schreibt er auch Reportagen. Er ist verheiratet mit Anne und befindet sich mit ihr mitten in den Planungen für einen Hausbau. An den Sitzungen mit der Baugruppe, den Debatten und Streitereien unter den Beteiligten, den unzähligen kleinen Entscheidungen stört ihn, dass es “nicht zu kontrollieren” ist. Man kann “nur hoffen, dass alles gutgehen würde.”

“Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und schwitzte.
Wir standen vor der Frage, ob der integrierte gedämpfte Selbsteinzug unserer Schubladen wirklich leise war.”

weiss

Titel: Flüchtige Bekannte
Autor: Thomas Weiss
Verlag: Berlin-Verlag
ISBN: 978-3-8270-7720-2
Umfang: 192 Seiten, gebunden m. Schutzumschlag

Eines Tages erzählt Anne Joachim von ihrem Freund Bernhard, dem sie im Pilateskurs begegnet ist: er ist alleinerziehender Vater einer Tochter im Teenageralter. Die Mutter, Maren, wird seit einem Dreivierteljahr vermisst. Eines Abends wollte sie noch arbeiten – sie war Architektin – , verliess das Haus in Turnschuhen und Pullover, um drei Uhr nachts war sie noch nicht zurück, es fehlten nur ihr Geld und ihr Reisepass. Joachim will die Geschichte nicht aus dem Kopf gehen, er schafft es, seiner Zeitung eine Reportage anzubieten, die sich mit Bernhard und Tochter Sandra befasst. Ein Foto von Maren wird gedruckt. Leser melden sich mit Hinweisen bei Joachim – und tatsächlich trifft einer davon ins Schwarze: Maren arbeitet in einem Clubhotel im tunesischen Djerba als Tennislehrerin. Ohne Anne und Berthold zu informieren, bucht Joachim eine Woche Cluburlaub…

“Flüchtige Bekannte”: flüchtig ist ein wundersam mehrdeutiges Wort, dessen Bedeutungshorizont sowohl ‘auf der Flucht befindlich, geflüchtet’ als auch (gerade in der Kombination mit Bekannten) ‘nicht lange bestehend, vergänglich’ oder ‘vorübergehend, nebenbei erfolgend’ miteinschliesst. Die Geschichten, die der Roman erzählt, umfassen alle möglichen Bedeutungen. Maren ist, wortlos, aus ihrem bestehenden Leben mit all seinen Verpflichtungen und der aufgebürdeten Verantwortung geflüchtet. Ihr neues Leben baut auf totaler Selbstbestimmung auf, darauf, zu jeder Zeit die Kontrolle über alle Entscheidungen zu haben: damit geht etwa auch einher, dass persönliche Bindungen vergänglich und vorübergehend sind: “Siche möchte ich mit Männern zusammen sein, aber ohne Bedingungen.” Sie liebt das Tennis, auch weil die Regeln des Spiels kein Unentschieden vorsehen: es ist ein bedingungsloses Entweder-Oder. Im Leben hat sie sich für die Freiheit und das Glück entschieden, was ihr nur durch die Abwendung vom familiären und beruflichen Alltag möglich schien.

In diese Geschichte hinein wird nun Joachim versetzt, der sich auf der tunesischen Ferieninsel Gedanken über das eigene Leben zu machen beginnt. Er steht vor der Wahl – ist es eine Wahl? -, sich auch bedingungslos der Suche nach dem persönlichen Glück zu widmen oder zu Anne zurückzukehren und weder unglücklich noch wirklich glücklich zu sein, zu leben, “wie man eben lebt”.

Thomas Weiss ist mit “Flüchtige Bekannte” ein hervorragender Text gelungen, der geschickt strukturiert ist: zumeist erfährt man die Dinge aus der Ich-Perspektive Joachims, bisweilen kommt aber auch Maren zu Wort, so dass auch ihre Version der Geschichte vermittelt wird. Darüber hinaus ist es in erster Linie ein Roman, der sich in kluger Weise mit einer der dominanten Fragen unserer Gesellschaft auseinandersetzt: der Frage, wie weit man für sein ganz eigenes, individuelles Glück gehen soll/darf/kann. Eine definitive Antwort darauf kann und will der Text natürlich nicht liefern, als Denkanstoss aber ist er überaus anregend.


Artverwandte: von Stil, Schauplätzen, Personal und einigen Grundthematiken (etwa der der kriselnden Ehe und damit verbundenen Kommunikationsproblemen) her, erinnert der Text an Andreas Schäfers “Gesichter”, einen ebenso grandiosen Roman.

Von flüchtigen Bekannten, vom Leben der Menschen als blosse Passanten im Leben anderer, schrieb unlängst Christian Zehnder in “Die Welt nach dem Kino”, wobei dieser Roman auch in seiner Sprache ‘flüchtiger’ bleibt und nicht so eindringlich wirkt.

Wer sich für die vielen, bisweilen auch kritischen Beschreibungen der touristischen Umgebung im Clubhotel interessiert, dem sei Michel Houellebecqs “Plattform” ans Herz gelegt, wo mit diesem Umfeld – es geht vornehmlich um Europäer in Thailand – radikaler abgehandelt wird.

Zuletzt muss, weil er im Roman selbst von Joachim als Referenzpunkt genannt wird, der Film “Five Easy Pieces – Ein Mann sucht sich selbst”  (1970) erwähnt werden. Jack Nicholson gibt hier den zum Ölarbeiter gewordenen Intellektuellen, der plötzlich ausreisst. Mehrmals.


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