Rezension: Thea Dorn – Die Unglückseligen (Knaus, 2016)

In ihrem umfangreichen Roman „Die Unglückseligen“ entfaltet Thea Dorn ein Panorama aus über dreihundert Jahren deutscher Literatur- und Naturwissenschaftsgeschichte. Ausgehend von einer durchaus als genial zu bezeichnenden Grundkonstellation, verzettelt sich die Autorin dabei in immer mehr haarsträubenden Unstimmigkeiten, stilistischen Unsauberkeiten und plumpen Versuchen, komisch zu sein.

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Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Molekularbiologin und Humangenetikerin Johanna Mawet, deren „Lebensprojekt“ es ist, allen menschlichen Zellen Regenerationsfähigkeit zu verleihen und die Zellalterung abzuschaffen, kurz: die Unsterblichkeit zu erlangen.

Während eines Forschungsaufenthalts in den USA begegnet sie in einem Supermarkt dem merkwürdigen „John“, der abgelegen in einer Hütte mitten im Wald lebt. Kuriose Umstände bringen die beiden Figuren einander näher und bald stellt sich heraus, dass „John“ der frühromantische deutsche Physiker Johann Wilhelm Ritter (1776-1810) ist – oder mindestens vorgibt, dieser zu sein. Sollten diese Angaben der Wahrheit entsprechen, wäre Ritter also 240 Jahre alt, kurz: vermutlich unsterblich.

Das ungleiche Paar kommt sich näher, Johanna setzt es sich bald zum Ziel, Ritters Genom zu entschlüsseln und so sein wahres Alter zu entdecken und seinen unglaublichen Regenerationsfähigkeiten auf die Spur zu kommen. Ihr Vorgehen erregt die Aufmerksamkeit ihrer Vorgesetzten, weshalb sie Ritter bald als ihren Onkel ausgibt und mit ihm zurück nach Deutschland flüchtet.

Im Laufe der Geschichte verabschiedet sich Johanna unter Ritters Einfluss nach und nach von ihrem vernunftgeleiteten Weltbild und driftet unaufhaltsam dem Wahnsinn entgegen – oder etwa doch der Entdeckung der Geheimnisse der Immortalität…?

Thea Dorn stellt hier zwei Figuren einander gegenüber, die beide in ihrer Zeit mit ihren Mitteln und Begrifflichkeiten danach strebten, die Rätsel der Menschheit zu ergründen. Sie versucht dies sprachlich adäquat umzusetzen, indem Ritters Teile in einem pseudo-altertümlichen Deutsch, Johannas in einem eher saloppen modernen Deutsch abgefasst sind. Dazwischen mischt sich immer wieder eine boshafte, in Reimen sprechende Erzählerstimme, deren Identität lange ungeklärt, aber dennoch bald absehbar ist, ist sie doch in der Grundkonzeption des Buches – zu grossen Teilen eine Neuauslegung des klassischen Faust-Stoffes – bereits angelegt.

So ambitioniert und vielversprechend die Ausgangslage dieses Textes ist, so sehr werden die Erwartungen enttäuscht. Einerseits leidet „Die Unglückseligen“ an krampfhaften Versuchen, innovativ und/oder komisch zu sein, was sich etwa an Stellen zeigt, wo plötzlich Sprechblasen mit wirrem Geschwätz den Textfluss unterbrechen, oder in Kapiteln, da plötzlich Fledermäuse (!) als Erzähler eine Aussenperspektive auf das Geschehen vermitteln – dies alles vollkommen irrelevant für den Verlauf der Geschichte.

Des Weiteren gibt es diverse unaufgelöste Geschichten um Figuren, die schlicht vergessen gegangen scheinen, und deutliche Logikfehler in der Konstruktion. Um nur ein Beispiel zu nennen: absurd erscheint mir das in geradezu penetranter Häufigkeit beschriebene ungläubige Staunen Ritters über die Entwicklungen moderner Technologie (häufigstes Beispiel: das Macbook). Denn ja, der Mann ist mental im 18. Jahrhundert verwurzelt, aber: er hat die ganze Zeit gelebt, so dass es kaum glaubhaft erscheint, wenn er der modernen Lebenswelt mit derartigem Befremden entgegentritt.

Am Ende – zumal nach dem Schock der Zuspitzung vollkommen haarsträubender Ereignisse auf den letzten fünfzig bis hundert Seiten – bleibt mir die Enttäuschung. Thea Dorn hat aus dem umfangreichen Stoff und der genialen Anfangskonstellation zwar viel gemacht, nämlich ganze 550 Seiten, aber zu wenig. Der Roman krankt an unterschiedlichsten Stellen und beraubt sich durch seine zerfaserte, geschwätzige Struktur selbst der Ironie und der Spannung, die in diesem Stoff angelegt ist und ohne deren Ausdruck er fade und belanglos bleibt.

Ein hartes Verdikt, ja, aber ich denke ein gerechtfertigtes. Wer positiv beeindruckte Gegenstimmen vernehmen möchte, schaue und höre etwa bei Denis Scheck nach, der von einem „virtuosen Sprachkunstwerk“ spricht, oder lausche Rüdiger Safranski, der im Schweizer Literaturclub voll des Lobes ist. Eine sehr gut geschriebene positive Rezension fand sich unlängst etwa im Tagesspiegel. Ich für meinen Teil muss mich Philipp Tinglers salopp zugespitztem Fazit aus dem eben schon genannten Literaturclub des Schweizer Fernsehens anschliessen: „Ein doofes Buch.“ – wenn auch eines, und das immerhin erachte ich jederzeit als positiv, über das sich ausgezeichnet streiten lässt!

Dorn, Thea. Die Unglückseligen. Knaus. 560 S., gebunden m. Schutzumschlag. 978-3-8135-0598-6


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