“Paradies: Glaube” von Ulrich Seidl

© NEUE VISIONEN Filmverleih GmbH / Maria Hofstätter in

© NEUE VISIONEN Filmverleih GmbH / Maria Hofstätter in “Paradies: Glaube”

Es war bereits in Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“ unerträglich der Hauptprotagonistin Teresa bei ihrem sexuellen Treiben am kenianischen Strand zuzusehen. Nun wird dieses Gefühl mit „Paradies: Glaube“ fortgesetzt, hier mit Anna Maria, der Schwester der so vom Sex besessenen Frau des ersten Films. Sie läuft durch die Wiener Landschaft, versucht ihre Mit-Österreicher davon zu überzeugen dem katholischen Glauben wieder mehr Bedeutung beizumessen. Das ähnelt dann schon fast dem von Tür zu Tür ziehen eines Zeugen Jehovas, ebenso eindringlich und penetrant klopft und klingelt Anna Maria an die Türen fremder Menschen um sich Einlass im Namen der Wandermuttergottes zu verschaffen. Sie trifft auf ein altes Ehepaar, mit dem sie lautstark über Ehebruch und Treue diskutiert, auf den für die Zuschauer amüsanten Herrn Rupnik, ein Messi der nur mit einer kleinen, vertrockneten Kerze an die im Schlafzimmerbett verstorbenen Ehefrau gedenkt, eine betrunkene Frau aus der ehemaligen Sowjetunion, wo sie sich noch als Mensch fühlte, sich nun in Österreich aber nur noch als ein Stück Dreck sieht und auf eine fremdsprachige Großfamilie, die eigentlich so gar nicht versteht was mit ihr geschieht, als Anna Maria sie das Beten lehrt. All diese Figuren spiegeln dann Problematiken wieder mit denen sich Anna Marie selbst charakterisieren lässt. Sie selbst ist mit ihrer Ehe mit einem im Rollstuhl sitzenden Muslim nicht sonderlich glücklich, sieht jeden weiteren Tag mit ihm als einen Glaubenstest an. Diesem Glauben folgt sie so fanatisch, dass sie ebenso wenig einsieht, dass man auch andere Formen des Glaubens praktizieren kann, wie auch dass sie sich selbst in ein neues Leben geflüchtet hat, in dem es ihr nicht sonderlich gut geht, nur die Regeln und Rituale ihr Dasein bestimmen. Im Grunde scheint sie die Religion nicht zu begreifen, ihrer eigenen Auslegung zu folgen, ohne dabei jegliche Rationalität zu zeigen.

So sehr man dabei Seidls fast-dokumentarischen Stil wertschätzen muss, man sieht hier ohne Frage einen emotional fantastisch funktionierenden Film, so sehr muss man sich dann aber auch eingestehen, dass der Filmemacher die unliebsame Begabung hat, aus einem knapp zweistündigen Handlungsstrang ein Gefühl der Unendlichkeit zu erwirken. Die hieraus entstehende Wirkungsweise darf gerne höchst Ambivalent angesehen werden. Manch einer hatte bereits bei „Paradies: Liebe“ eher Mitgefühl mit der dort vereinsamten Teresa, die sich aus ihrer alltäglichen Unzufriedenheit in den Sexurlaub flüchtete, dort mit ihrem Geld die Liebe erkaufen konnte, die sie im wirklichen Leben nicht bekommen sollte. Statt dieses Mitgefühls erlebten andere dann eine immense Abneigung. Es machte sich bei dieser Verhaltensstudie nahe dem Unterschichtenfernsehen eine Unerträglichkeit breit. Auf den ersten Blick mag nun Anna Maria in „Paradies: Glaube“ wie eine grundverschiedene Person wirken, schon allein ihre Einstellung zum Thema Sex dürfte sich erheblich von den Vorstellungen ihrer Schwester unterscheiden.

Anna Marias (Maria Hofstätter) innige Liebe zu Jesus manifestiert sich in einer Szene von

Anna Marias (Maria Hofstätter) innige Liebe zu Jesus manifestiert sich in einer Szene von “Paradies: Glaube”

Vor allem aber schafft es Darstellerin Maria Hofstätter ihrer extrem gläubigen Teresa im Verlauf des zweiten Films der „Paradies“-Trilogie weitaus mehr Sympathien einzuspielen als es noch bei Margarete Tiesel der Fall war. Dies kommt Seidls Handlungskonzept zu Schulden, welches in diesem Film die Hauptfigur weitaus besser charakterisiert, die Flucht in die Religion sichtbar gemacht wird, die Problematiken oder viel mehr ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit Teresas als Ausgangspunkt für ihr neues Leben festgemacht wird. Mit der Thematisierung dieses Einschnitts – der Unfall des Ehemanns, der ihn an den Rollstuhl fesselt – als „Zeichen Gottes“ wird ein seelischer Blick auf Teresas Glaubensflucht geworfen, der ihr Handeln grundiert und nicht wahllos erscheinen lässt. Dennoch findet man hier die Grundlage zur Gemeinsamkeit zu ihrer Schwester. Beide flüchten sich aus dem Alltag, beide stürzen sich dabei mit der selbst vorgetäuschten Hoffnung ihr Paradies gefunden zu haben ins Extreme: in eine Fülle von Sex-willigen Beachboys oder eben in die religiösen Vorstellungen einer perfekt funktionierenden Welt. Und ebenso wie Teresa durch das wissentliche Bezahlen der sexuellen Dienstleistungen eine gewisse emotionale Selbstgeißelung an sich betreibt, so sehr nimmt das auch Anna Maria in die Hand. Mal mit Auspeitschung, dann wieder mit stundenlangen auf dem Boden ihrer Wohnung herumrutschen, dabei Gebete aufsagend, bis die Knie wund gescheuert sind. Die beiden Kameramänner Edward Lachman und Wolfgang Thaler zeigen dabei keine Ecke der Wohnung, keinen Raum ohne ein Kruzifix in den Fokus zu nehmen. Ein Jesusbildnis steht immer neben dem Bett Anna Marias, ein Foto von Papst Benedikt XVI. hängt in der Küche. Der Glaube wird in den Bildern stark vergegenwärtigt.

Ein weiteres dieser starken Bilder inszeniert Seidl, wenn er Anna Maria bei der Masturbation mit einem Jesus-Kreuz zeigt. Nach der Uraufführung von „Paradies: Glaube“ bei den Filmfestspielen von Venedig hatte eine italienisch-katholische Organisation Anzeige wegen Blasphemie erstattet. Die Zuschauer bekommen Anna Maria zu sehen, wie sie im Bett liegt, über ihr der gekreuzigte Gottessohn. Langsam tastet sie sich an dem Kruzifix empor, leckt an dem heiligen Symbol, küsst Jesus. Dann hängt sie das Kreuz ab, nimmt es langsam unter die Bettdecke. Mehr ist nicht zu sehen, die Szene bricht ab. Ein eigentlich harmloses Unterfangen, kurz und schmerzlos umgesetzt. Viel intensiver wirkt dann eigentlich der Schluss des Films, bei dem die in ihrem Glauben erschütterte Anna Maria voller religiöser Enttäuschung wieder zur Peitsche greift, nun aber nicht sich selbst straft, sondern dem am Kreuze hängenden Jesus.


Paradies Glaube_Hauptplakat

“Paradies: Glaube“

Originaltitel: Paradies: Glaube
Altersfreigabe: ab 16 Jahren
Produktionsland, Jahr: A / D / F, 2012
Länge: ca. 114 Minuten
Regie: Ulrich Seidl
Darsteller: Maria Hofstätter, Nabil Saleh, Natalya Baranova, Rene Rupnik, Daniel Hoesl, Dieter Masur, Trude Masur

Deutschlandstart: 21. März 2013
Im Netz: paradies-trilogie.at



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