Misanthropie, Teil 1

Niemand wird als Misanthrop geboren. Weder ist es eine Persönlichkeitseigenschaft noch eine Krankheit. Man wird zum Misanthropen durch eigene Erlebnisse und Urteile, die man über diese Erlebnisse fällt. Schon bei Platon wird man durch Enttäuschung zum Misanthropen:

„Nämlich die Menschenfeindschaft entsteht, wenn man einem auf kunstlose Weise zu sehr vertraut, und einen Menschen für durchaus wahr, gesund und zuverlässig gehalten hat, bald darauf aber denselbigen als schlecht und unzuverlässig erfindet, und dann wieder einen, und wenn einem das öfter begegnet [...] so haßt man denn endlich [...] alle, und glaubt, daß nirgend an keinem irgend etwas gesundes ist." (Phaidon)

Mit anderen Worten: Wäre der Menschenfeind nicht so naiv und würde er nicht zu viel von seinen Mitmenschen erwarten, dann hätte er auch keinen Grund für eine so tiefe Enttäuschung, die sich in einen Hass der ganzen Menschheit übersetzt. Auch bei Goethe hat der Misanthrop etwas niedlich-naives:

„Erst sitzt er eine Weile/Die Stirn von Wolken frei/Auf einmal kommt in Eile/Sein ganz Gesicht der Eule/Verzerrtem Ernste bei./Sie fragen, was das sei?/Lieb oder Langeweile?/Ach, sie sind's alle zwei." (Der Misanthrop)

Bei Goethe wird also ganz explizit die Liebe in der Verachtung thematisiert. Und auch Nietzsche orientiert sich klassisch an der Misanthropie als „Folge einer allzu begehrlichen Menschenliebe" (Die fröhliche Wissenschaft). Heute ist sicherlich eine Entfremdung der Menschen untereinander eine große Ursache für solch eine Enttäuschung, die in Misanthropie umschlägt: In unseren Individualgesellschaften fühlen wir uns leicht von gemeinschaftlichen Strukturen isoliert und begegnen ihnen dann feindlich in einer Art Trotzreaktion: Ihr wollt nicht, dass ich dazugehöre? Ich will gar nicht zu euch gehören! Oder auch umgekehrt: Einer Gemeinschaft, die jemanden wie mich akzeptiert, würde ich nie angehören wollen.

Bei Móliere entfremdet sich der Misanthrop von seinen Mitmenschen, weil er ihnen gnadenlos die Leviten liest. Das ist auch das, was viele der Möchtegern-Misanthropen am liebsten machen: Menschen für ihre Schwächen verurteilen. Das ist eher zwanghaft, als philosophisch. Aber irgendwie gibt es gar keine nennenswerte zeitgenössische Philosophie der Misanthropie. Da wäre vielleicht E. M. Ciorans Aphorismensammlung „Vom Nachteil", geboren zu sein zu nennen oder Ulrich Horstmanns provokative Streitschrift „Das Untier". Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, in der er völlig geradeheraus die Abschaffung der Menschheit fordert und das Eventualitätsphilosophie nennt. Aber all das ist eher Literatur, keine Analyse. Ob zwanghaft, philosophisch oder literarisch: Den Verächtern der Menschheit kann man ihre Gefühle auf eine Art kaum verdenken:

Wie könnte man sich denn ohne Abscheu ansehen, wie wir nicht aufhören, uns in Kriegen und Massakern gegenseitig zu vernichten, wie wir vergewaltigen, foltern, die Natur in Asche legen oder in industriellem Stile Tiere quälen?

Wie kann man eine solche unzivilisierte Zivilisation nicht hassen?

Wie kann man sich nicht wünschen, all das hörte bald auf?

(Fortsetzung folgt...)

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