Katajun Amirpur – "Unterwegs zu einem anderen Islam"

Katajun Amirpur – Unterwegs zu einem anderen Islam

In diesem Buch vereinigt Katajun Amirpur sechs Texte von drei iranischen Geistlichen, die sich selbst als “religiöse Aufklärer” bezeichnen. Selbst wenn man Zweifel darüber hegt, ob diese Ideen wegen ihres islamischen Herangehens von Relevanz sind: das Buch ist sehr lesenswert und stellt überzeugend klar, dass auch ein islamischer Weg ein demokratischer sein könnte.

Anders als das bereits rezensierte Buch “Der Islam am Wendepunkt” hat sich Frau Amirpur bemüht, die von ihr verfassten Einleitungen zu den drei (schiitischen) Denkern in einer klaren und einfachen Sprache zu halten. Sie erklärt die grundlegenden Gedanken von Mohammad Mojtahed Shabestani, Mohsen Kadivar und Hasan Yusefi Eshkevari.

Alle drei sind zwar iranische Geistliche; vertreten aber die Auffassung eines “aufgeklärten Islam” und treten für eine Trennung von Staat und Religion ein. Damit stehen sie gegen die als Islamismus bezeichnete Denkströmung der Koran-Exegese (Tafsir). Wobei auch diese säkulare Strömung der Tafsir zugerechnet wird; im allgemeinen Sprachgebrauch meint “Islamismus” aber inzwischen allein die sehr rigerose Auslegung des Koran. Daher unterscheide ich (und wie mir scheint, auch Katajun Amirpur) zwischen den Extremen: auf der einen Seite ein “aufgeklärter Islam”, auf der anderen der “Islamismus”.

In der Einleitung des Buches geht die Herausgeberin und Übersetzerin (Katajun Amirpur) auch auf die derzeitige politische Situation in Iran ein. Sie begründet so auch die Notwendigkeit, sich mit den Texten der drei zu befassen, um zu verstehen, dass der Islam mit der Diktatur der Mullahs in Iran nicht viel gemein hat. Sondern im Gegenteil eher die Religion durch die Politik diskreditiert wird.

Die… Situation, die seit Jahren schon in Iran herrscht und in der der Islam sein Ansehen verliert, ließ die drei hier vorgestellten Denker eine Lesart des Islam entwickeln, die der offiziellen Irans entgegensteht und in der der Islam sein sanftes Antlitz zeigt.

Die… Situation, die seit Jahren schon in Iran herrscht und in der der Islam sein Ansehen verliert, ließ die drei hier vorgestellten Denker eine Lesart des Islam entwickeln, die der offiziellen Irans entgegensteht und in der der Islam sein sanftes Antlitz zeigt. (Seite 11)

Im ersten Teil meiner Rezension möchte ich mich nur einem der Vorgestellten widmen:

Mohammad Mojtahed Shabestari

Shabestari schreibt und spricht sowohl in Farsi (Persisch) als auch in Deutsch. Er übernahm 1970 die Leitung der iranischen Moschee in Hamburg. Amirpur zitiert ihn aus einem Tagesspiegel-Artikel von 2007:

Die richtige Frage ist nicht: Sind Islam und Demokratie vereinbar oder nicht? Die Frage ist: Sind die Moslems heute bereit, diese Vereinbarkeit entstehen zu lassen?“, sagt Shabestari. Jede Religion sei in ständigem Wandel, „das Christentum hat sich gewandelt, das Judentum auch. Warum dürfen die Moslems ihre Religion nicht reformieren?“(Seite 17)

Da dieser Reformgedanke Shabestaris wichtigstes Thema ist, hat Amirpur für das Buch zwei Texte ausgewählt: “Demokratie und Religiösität” und “Die Menschenrechte und das Verständnis der Religionen”. Beide Texte lesen sich hervorragend; sie sind einfach und deutlich. Und erschienen beide in iranischen Zeitungen, was Shabestaris Definition von Demokratie auch hierzulande spannend macht:

Die Demokratie ist weder eine eine Rechtsphilosophie noch eine Moralphilosophie… die Demokratie ist in der heutigen Welt eine Methode und eine Form der Regierung – und zwar im Gegensatz zu den diktatorischen Methoden und und Formen der Regierung. [...] Es unterscheidet die Demokratie von den übrigen Herrschaftsformen, dass sie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen nicht entmachten kann. Dies ist dadurch garantiert, dass die Regierung verpflichtet ist, sich an die gesetzlichen Bestimmungen zu halten, die die Versammlungsfreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung gewährleisten. [...] In einem demokratischen Staat stehen die Medien allen gesellschaftlichen und politischen Gruppen offen – ganz gleich, ob sie für oder gegen die Regierung Partei ergreifen. Ein demokratischer Staat ist weder ein Staat der Mehrheit noch der Minderheit, sondern ein Staat, der den Interessen und dem Wohl aller gesellschaftlichen Gruppen verpflichtet ist. (Seite 26 f.)

In der schiitischen Theologie wird der Gerechtigkeit ein über allem stehender Gedanke. Aus diesem Grunde argumentiert Shabestari, dass sich Demokratie (die er sehr theoretisch und als vollkommen darstellt) sehr wohl mit dem religiösen Gedanken der Gerechtigkeit in Übereinstimmung bringen lässt. Auch wenn das in seinem – sich selbst als islamische Republik bezeichnenden – Heimatland offiziell abgestritten wird.

Mir kommt es beim weiteren Lesen das Artikels ein wenig so vor, als wolle Shabestari vermeiden, die Leser (einer immerhin weit verbreiteten Tageszeitung) zu verprellen und sie zu beruhigen, wenn er dann schreibt, dass es natürlich sei, dass selbst in einer Demokratie (in Iran) es nicht dazu kommen könnte, dass Ungläubige die Mehrheit erhalten könnten. Weil das Land und sein Volk islamisch sei. (Ich denke, dass er sich – so er das ernst meint – sehr wohl irrt.)

Zwar ist es möglich, dass sich in einer islamischen Gesellschaft, die demokratisch verwaltet wird, Personen oder Gruppen finden, die auch irgend einem Grunde dagegen sind, nach den Geboten Gottes zu handeln und diese Ansicht offen äußern [...] Doch dieser Punkt hat nichts mit der Aufgabe der unumstößlichen Gottesgesetze zu tun. [...] Und selbstverständlich werden Muslime, die an das Gesetz [den Koran] glauben, ihr Möglichstes tun, dass diese Ansicht nicht das Kriterium für die Gesetzgebung wird und dass sie göttlichen Gesetze nicht aufgegeben werden. (Seite 31)

Im Weiteren weist Shabestari bereits darauf hin, dass die Auslegung des Koran nur gerecht erfolgen kann, wenn die zeitlichen und örtlichen Hintergründe ausreichend beachtet werden. Diesen Gedanken führt er in den beiden Artikeln nicht besonders aus; sie sind aber wichtiges Thema der anderen beiden Autoren.

Der zweite Artikel “Die Menschenrechte und das Verständnis der Religionen” befasst sich vorrangig mit der Frage, ob der Islam als religiöse Lehre die Allgemeinen Menschenrechte ausschließt. Shabestari verneint dies. Er legt besonders Wert auf die Feststellung, dass der Islam, da er in seiner schiitischen Ausprägung sich als die Religion der Gerechtigkeit definiert, eher Grundlage der Menschenrechte ist als im Widerspruch dazu stehend.
Dazu benutzt er ein theologisches Konstrukt, bei dem Shabestari zwischen den Verhältnis des Menschen zu Gott und dem zu anderen Menschen unterscheidet:

Der Grad der Nähe der Menschen zu Gott betrifft die spirituelle Glückseligkeit der Menschen im Jenseits, während es bei den Rechten der Menschen in der Gesellschaft um das friedliche und gleichberechtigte und gewaltfreie Leben der Menschen miteinander in diesem weltlichen Leben geht. (Seite 39)

Damit gelingt ihm eine Trennung von Religion und Politik. Allerdings stellt sich noch immer die Frage, wie eindeutige Ungleichbehandlungen, die im Koran geschrieben stehen (Stichwort: Gleichberechtigung der Frau), sich zum einem mit dem bereits erwähnten Gerechtigkeitsgedanken der Schiiten und zum anderen mit den Allgemeinen Menschenrechten vereinbaren lassen.
Darauf findet sich in Shabestaris Texten keine Antwort. Doch hat sich insbesondere Eshkevari sehr ausführlich zu dieser Thematik geäußert. Dazu dann später mehr.


Wie im ersten Teil bereits erwähnt, hat Katajun Amirpur neben Mohammad Mojtahed Shabestari im Buch auch zwei weitere iranische Geistliche vorgestellt.

Mohsen Kadivar

ist einer der beiden. Seine Hauptthese, die ihn als islamischen Reformer ausweist, ist folgende:

Die Menschen erwarten zwar, dass ihnen die Religion generelle Prinzipien und Werte in die Hand gebe, aber die praktischen Angelegenheiten gehören in den Bereich der so genannten „menschlichen Erfahrungen“, eine Formulierung, die ein Code sein dürfte für „säkulare Normen“. Deshalb würden … in unterschiedlichen geschichtlichen Perioden unterschiedliche politische und ökonomische Systeme gebraucht. (Seite 46)

Für diese auch öffentlich vertretene Haltung ist Kadivar mehrfach in Haft gewesen. Er lehnt die Staatsführung durch “Die Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten” (velayat) – wie sie die “Islamische Republik” Iran derzeit als Staatsform kultiviert, generell ab,

weil sie von der Unmündigkeit des Volkes ausgehe, da das Volk laut diesem Konzept eines Oheims oder eines Hirten bedürfe. (Seite 50)

Katajun Amirpur fasst es in ihren einleitenden Worten so zusammen, dass Kadivar (in den beiden vorgestellten Texten) feststellt, dass der traditionelle Islam mit einer Demokratie tatsächlich nicht vereinbar ist. Ein aufgeklärter, von ihm propagierter Reformislam sehr wohl. So heißt denn auch der erste Text im Buch von Mohsen Kadivar “Islam und Demokratie, ein Widerspruch?“. Es ist zu erkennen, dass Kadivar nicht nur an einer islamischen, sondern auch an einer staatlichen Hochschule studiert hat; seine Schriften sind von bezwingender Logik.
Er definiert erst einmal, was er unter “traditionellem Islam” und “Reformislam” versteht. Das liest sich wie ein Lehrbuch; nutzt er doch Aufzählungen, in denen er sozusagen Merksätze definiert.

Ich gebe zu, dass mich vor allem die strikten Vorschriften des traditionellen Islam schaudern lassen. Solch ein eingeschränktes und nur von Verboten umgebenes Weltbild kann ich mir als im aufgeklärten Europa Aufgewachsener kaum vorstellen; vor allem nicht, dass dies tatsächlich für zeitgenössische Menschen noch immer Glaubensbekenntnis ist. Schon ein Satz wie

Alle religiösen Vorschriften, die sich im Koran befinden, sind feststehend und überzeitlich und unveränderlich (Seite 57)

lässt mich den Kopf schütteln. Allerdings auch Kadivar, denn dieser Glaubensgrundsatz ist auch für ihn falsch. Denn, so argumentiert er, man könne den Koran und die Hadithen nur auslegen, wenn man die historischen Bedingungen ihres Entstehens mit bedenkt. (Diese Lesart, das als Zwischenbemerkung, täte auch den anderen Religionen gut.) Und so ist es regelrecht revolutionär, wenn er die Grundgedanken des Reformislam so charakterisiert:

Alle Mitglieder der Gesellschaft und jeder einzelne hat ohne … Unterschiede der Religion, des Geschlechts, der Rasse und der Ansicht…dieselben Rechte. [...]
Alle sind frei in der Wahl ihrer Religion [und der Nichtausübung einer solchen! - Anm. d. Autors]… niemand kann zu einer religiösen Handlung gezwungen werden. [...]
alle religiösen Aussagen … sind hinterfragbar und kritisierbar. [...]
Diese Vorschriften [gemeint sind Koran und Sunna] sind unter Beachtung der örtlichen und zeitlichen Umstände herabgesandt worden, und wenn diese Umstände nicht mehr existieren, dann verlieren die Vorschriften ihre Gültigkeit und Relevanz. (Seite 60 ff.)

Anschließend erklärt Mohsen Kadivar seinen Lesern, was Demokratie ist. Anders als Shabestari ist er nicht ganz so unkritisch sondern stellt berechtigt fest, dass es keine einheitliche Demokratie-Definition gibt, geben kann, da sich die Umstände nicht gleichen. Er stellt dann jedoch die Gemeinsamkeiten heraus: freie und gerechte Wahlen; die politische Gleichheit und die Möglichkeit der allgemeinen Entscheidungsfindung über Abmachungen und Politik (Vgl. Seite 66).

Darauf aufbauend prüft Kadivar in den Abschnitten “Islam und öffentliche Kontrolle”, “Der Islam und die politische Gleichheit” sowie “Die Möglichkeit der Entscheidungsfindung der Allgemeinheit über Bestimmungen und Politik”, ob und in wie weit der Islam mit den Prinzipien der Demokratie vereinbar sein könnte. Gerade dieser Teil ist sehr lesenswert. Vor allem auch, um zu verstehen, dass es einiger geistiger Verrenkungen bedarf, um dem Islam in der Form, wie wir ihn kennen bzw. wahrnehmen, eine Möglichkeit zu eröffnen, demokratisch zu werden. Nach meiner Meinung ist das, was Kadivar letztlich am Islam mit der Demokratie vereinbar hält, nicht sehr religiös mehr. Letztlich läuft das – ohne dass er das so schreibt – auf einen säkularen Staat hinaus, in dem Religion eine Rolle spielt; aber keine tragende (und schon gar keine staatstragende) mehr.

Wir kommen also zu dem Schluss: Traditioneller Islam und Demokratie sind in allen drei untersuchten Prinzipien nicht vereinbar, während Reformislam und Demokratie in allen drei untersuchten Prinzipien vereinbar sind. (Seite 79)

In zweiten, von Katajun Amirpur ausgewählten Text schreibt Kadivar “Vom historischen Islam zum spirituellen Islam“. Hierauf werde ich nicht so ausführlich eingehen. Denn letztlich vertieft der Autor nur die im ersten Artikel bereits gemachte Feststellung, dass Interpreten des Koran und anderer Schriften die historischen Umstände mitdenken müssen:

In dem Maße, wie wir uns von der vorgeblich heiligen Vergangenheit entfernen und wie der Abstand zwischen den Umständen jener Zeit und uns sich vergrößert, so wird … behauptet, haben wir uns vom ursprünglichen und wahren Islam entfernt. Deshalb ist mit der sogenannten Wiederbelebung der Religion nichts anderes gemeint, als dass man jene anfänglichen Umstände und Bedingungen wieder entstehen lassen will. (Seite 81)

Das lese ich als Hinweis auf und Warnung vor dem aktuellen Fundamentalismus. Selbstverständlich ist diese Lesart des Islam nicht die von Mohsen Kadiva vertretene. Im Gegenteil bekämpft er sie. Dazu bedient er sich einer Unterscheidung zwischen unveränderlichen und veränderbaren Teilen der Lehre. Dem dient der gesamte Text.

Nach seiner Auffassung ist der “spirituelle Islam” der, der auch eine Demokratisierung ermöglicht:

Der Maßstab der Gültigkeit der religionswissenschaftlichen Vorschriften ist zu jeder Zeit die Gerechtigkeit und ihre Übereinstimmung mit der Vernunft. (Seite 104)

Hier schließt Kadivar nahtlos an Shabestari an, der als wichtigsten Grund für den Islam dessen Gerechtigkeit ist. Insofern schlägt Kadivar den Bogen von der Gerechtigkeit, die sich aus den religiösen Vorschriften (seiner Auffassung nach) ergeben und derer, die eine Demokratie charakterisieren. Nur die menschliche Vernunft sein in der Lage, so Kadivar, die Probleme der Zeit und des Miteinander zu lösen. Kein Mensch kann religiöse Vorschriften aufstellen und daher nicht aufgrund derer moderne Staaten leiten wollen. Sondern das müsse auf Grund vernünftiger Gesetze erfolgen – ohne Hinweis auf die Religion (Vgl. Seite 104).

Das ist – um das noch einmal klar zu stellen – eine verheerende Kritik am herrschenden System in Iran. Dort maßt sich eine Clique selbsternannter religiöser Führer an, ihre rückwärts gewandten Ideen eines Gottesstaates einem Volk auf zu oktroyieren, dass gebildeter und aufgeklärter ist, als jene es wahrhaben wollen.


Im letzte Teil der Rezension von Katajun Amirpurs Buch “Unterwegs zu einem anderen Islam” befasse ich mich mit dem dritten Autoren, dessen Texte sie im Buch vorstellt:

Hasan Yusefi Eshkevari

Bei diesem dritten und letztem Religionslehrer handelt es sich um den Favoriten der Autorin – wie selbst zu gibt und wie man der Einleitung unschwer entnehmen kann. Eshkevari ist auch in Deutschland kein Unbekannter. War er doch im April 2000 beim Eklat in der Heinrich-Böll-Stiftung als Redner beteiligt. Diese Konferenz war als Forum für einen Dialog mit den Reformkräften gedacht; wurde jedoch von diversen Gruppierungen (unter anderem auch Exiliranern) unmöglich gemacht. Vermutlich gab es auch Mitarbeiter des iranischen Geheimdienstes unter den Störern, die sich als “agents provocateurs” betätigten. Die Heinrich-Böll-Stiftung geht darauf in ihrem Jahresbericht 2001 ein und verweist auch darauf, dass alle iranischen Teilnehmer der Konferenz nach ihrer Rückkehr verhaftet wurden.
Nun, aus Sicht des dort herrschenden Regimes verwundert das nicht, schrieb Eshkevari in der Süddeutschen Zeitung (vom 27.4.2000) [Artikel ist online leider nicht auffindbar]:

Regierung und Religion sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, sie miteinander zu verweben, schadet sowohl der Religion als auch der Politik. (Seite 112 – ursprünglich aus einem Interview mit der Süddeutschen)

Dabei beruft er sich – wie die beiden bereits vorgestellten Geistlichen – auf den Koran und die Hadithen. Er vertritt die Auffassung, dass zwar die Propheten den Anspruch besaßen, die Wahrheit zu kennen; aber nie behauptet und gewollt zu haben, sich in jede Angelegenheit des täglichen Lebens einmischen zu müssen. Damit auch stellt sich Eskevari gegen das iranische System, das sich als “Herrschaft der Rechtsgelehrten” ausgibt und aber tatsächlich die Religion zur Unterdrückung der universellen Menschenrechte nutzt. (Und sich, das sei vermerkt, sehr unreligiös bereichert.)
“Deshalb bedarf es heute einer Reform des iranischen Systems” schreibt Katajun Amirpur, um dann Eshkevari zu zitieren:

Auch der Glaube an die Demokratie und die Volksherrschaft ist … den Reformern … gemein: Das Volk muss über seine Angelegenheiten bestimmen. Die Reformer lehnen damit alle anderen Formen der Herrschaft ab – sowie die Existenz einer staatlichen Religion. (Seite 115)

Da Eshkevari auch den Kopftuchzwang für die Frauen ablehnt und die permanente Einmischung des Staates in die privaten Angelegenheiten seiner Bevölkerung wurde er zu einem der wichtigsten Gegner des Mullah-Regimes; in Zeiten des Kalten Krieges und lebte er in einem anderen Land, hätte man ihm sicherlich den Ehrentitel “Regimekritiker” gegeben und für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Denn:

…für Eshkevari gibt es keinen Zweifel: Islam und Demokratie sind vereinbar, und die Demokratie ist sogar die Herrschaftsform, die dem Islam am meisten entspricht. Wieso und warum erklärt er in seinem Aufsatz “Eine demokratische islamische Regierung(Seite 120)

Der genannte Aufsatz sowie der extra für Amirpurs Sammlung verfasste “Die Menschenrechte und die gesellschaftstrelevanten Bestimmungen des Islam” bilden den Werkausschnitt, den die Herausgeberin zusammengestellt hat.

Den ersten Text beginnt Hasan Yusefi Eshkevari mit einem groben historischen Auszug über die Entstehung und Geschichte der Religion.Er benennt die drei Hauptströmungen, die islamisches Denken heute prägen: fundamentalistische Denkweise, laizistisch-säkulare Denkweise (die nicht zwingend auch atheistisch sein muss) sowie derer, die er vertritt: eine Denkweise, die den Islam und die Demokratie für vereinbar halten.

Eshkevari listet dann auf, welche (bei ihm sind es 14) Fragen zu beantworten sind, um eine Vereinbarkeit (oder Unvereinbarkeit) von Islam und Demokratie zu beantworten. Auch er geht grundsätzlich und ohne kritische Frage davon aus, dass der Islam eine gerechte Religion ist und daher Gerechtigkeit als Grundlage der Regierung zwingend auf Demokratie hinauslaufen muss.

Diese Behauptung und dieses logisch und praktisch sich gegenseitig Bedingende von Demokratie und Gerechtigkeit folgt sowohl dem Text der Religion … als auch aus den Erfahrungen, die die Menschen im Laufe der Geschichte gemacht haben. In der Anthropologie des Korans ist der Mensch frei und mit einem eigenen Willen erschaffen worden. [...] jeder Mensch (ist) für seine Taten und sein Denken und Handeln verantwortlich … Er wählt sich seine Religion und seine religiöse Gesetzgebung selbst aus. (Seite 133)

Es ist klar, dass ich dieses Zitat nicht unwidersprochen hinnehmen kann. Denn anders als Eshkevari hier ausführt, kann sich kein Mensch wirklich frei für seine Religion entscheiden. Sondern er wird in die Umstände hinein geboren und innerhalb der Regeln der Religion seiner Eltern aufwachsen und entsprechend erzogen. Noch viel weniger kann sich der Mensch seine religiöse Gesetzgebung selbst auswählen. Das wäre sehr hilfreich. Für die Menschen; für die Religionen als Einheit eines Glaubens vermutlich nicht.
Hier stößt auch Eshkevari an die Grenzen des Raumes, in dem sein Denken sich bewegt, wenn er schreibt:

…denn wenn wir leugnen, dass der Mensch in jedem Bereich über einen freien Willen verfügt, haben weder die Rechtleitung noch die ethische Vervollkommnung und die Bewegung in Richtung auf Gott eine Bedeutung.(Seite 133)

Trotz dieser deterministischen Denkmuster, aus denen er so wenig entkommen kann wie die Herausgeberin bemüht sich Eshkevari weiter, die Vereinbarkeit des Islam mit der Demokratie nachzuweisen:

Die Quellen der Vernunft und der Überlieferung des Islams berichten davon, dass Macht und Herrschaft und Staat in unserem religiösen Denken und unserer religiösen Tradition eine irdische Quelle haben – nämlich das Volk – und keine himmlische. (Seite 138)

Damit spricht er den Rechtsgelehrten die Grundlage ab, nach der sie sich an der Macht erhalten wollen.
Doch letztlich stellt sich auch ihm die Frage, weshalb es denn überhaupt notwendig ist, darüber nachzudenken, weshalb man eine religiöse Regierung benötigt, wenn doch Religion nicht Grundlage des Staates sein kann.

Die Antwort ist, dass die Definition, die ich von der Religion und ihrer Rolle und ihrer Funktion gegeben habe, dergestalt ist, dass weder die Religion noch die religiösen Menschen in Bezug auf die Regierung und das Verhalten der Regierenden gleichgültig und ohne Meinung sein können… (Seite 143)

Es tut mir leid, aber das ist für mich keine Begründung. Das ist Scholastik.

Und so tut sich Eshkevari sehr schwer, darüber zu sprechen, was geschieht, wenn in einer demokratischen Wahl sich die Mehrheit dazu entschließt, eben nicht religiös zu wählen, sondern säkular. Sein Credo bleibt verschwommen, wenn er zwar sagt, dass natürlich eine demokratisch gewählte, nichtmuslimische Regierung an der Macht wäre, diese zu respektieren sei; aber natürlich es den Muslimen unbenommen sei, mit ebenso demokratischen Mitteln die Macht wieder zu erlangen.
Ich halte ihm zu Gute, dass er diesen Aufsatz für eine iranische Leserschaft schrieb, die er möglicherweise nicht verprellen wollte.

Diese “Entschuldigung” gilt für den zweiten Aufsatz jedoch nicht.
In “Die Menschenrechte und die gesellschaftstrelevanten Bestimmungen des Islam” setzt sich Eshkevari vor allem (wie auch Kadivar) mit den Vorschriften des Islam auseinander, die er ebenfalls in “unveränderliche” und “wandelbare” Vorschriften unterteilt. Während erstere vor allem auf das Verhältnis der Menschen zu Gott abstellen, regeln zweitere das Leben der Menschen miteinander. Und sich daher den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten anzupassen haben.

In den Jahren vor der iranischen Revolution [1979] kam der Terminus “traditionelle Rechtswissenschft versus dynamische Rechtswissenschaft” unter den modernen, revolutionären und politischen Geistlichen in Mode. (Seite 158)

Weshalb Eshkevari jedoch auch Khomeyni als “modernen” Rechtstheologen bezeichnet, erschließt sich mir nicht. Weil dieser die politische Macht für den Klerus gewann? Weil dieser und seine Nachfolger einen fundamentalistischen Weg einschlugen?

Im Weiteren versucht Eshkevari dediziert aus zu arbeiten, welche Vorschriften wandelbar und welche festgeschrieben sind. Dabei geht er immer wieder auf die verschiedenen Denkschulen und Differenzen ein. Allerdings ist das dann eher Thema für einen Islamwissenschaftler und nicht für einen eher laienhaften Leser. Den gleichen Vorwurf (?) habe ich der Herausgeberin Katajun Amirpur ja bereits im Review zu ihrem Buch “Der Islam am Wendepunkt” gemacht. Ich gebe zu: das ist nicht das, was mich interessiert. Zumal mir das viel zu wenig lösungsorientiert ist. Und fast klingt es, als wäre das auch Eshkevari so gegangen, wenn er seinen Aufsatz mit den Worten beendet:

Hinsichtlich der Frage der Menschenrechte und des Islams gibt es unterschiedliche Stadtpunkte und einander entgegen gesetzte Meinungen. Manche halten beides für vereinbar und andere sich der gegenteiligen Meinung. [...] Meiner Meinung nach ist es unmöglich, alle Paragraphen der Menschenrechte aus den religiösen Texten herzuleiten. (Seite 180)

Zusammenfassung

Das Buch, das Katajun Amirpur hier herausgegeben hat, ist trotz all seiner Schwächen in der (religiösen) Argumentation hochaktuell. Zeigt es doch, dass es neben dem von uns medial wahrgenommenen Islam noch einen anderen gibt, der versucht, völlig neue (gedankliche) Wege zu gehen. Und gerade wenn wir uns mit der Situation in Iran befassen sind die drei vorgestellten Geistlichen als Kritiker nicht zu unterschätzen.

Dass ich persönlich eine völlig andere Herangehensweise an die die Problematik bevorzuge, mag dabei zwar eine Rolle spielen, aber andererseits gehe ich davon aus, dass trotz der “grünen Revolution”, die den Iran seit der gefälschten Wahl erschüttert, die Systemänderung nicht von der Straße her kommen wird, sondern vom Klerus. Ob sich dabei die hier vorgestellten Reformkräfte durchsetzen werden ist abzuwarten. Zu hoffen auf jeden Fall.
Und deshalb – und vor allem deshalb – ist dieses Buch wirklich wichtig. Wir – d.h. der Westen – müssen endlich begreifen, dass es zur Demokratie möglicherweise andere Wege gibt als die, die wir gegangen sind. Und unserer waren immer blutig. Insofern wird es spannend, zu beobachten, ob die trotz Allem in Iran noch vorhandene tiefe Verwurzelung in der Religion dazu führen kann, dass dieses Land, dieses Volk einen anderen, einen eigenen, seinen eigenen Weg zur Demokratie findet.

Nic


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