Kapitel 9 – „Sandkastentod“


Kapitel 9 – „Sandkastentod“
IX.
Er hatte den Volvo außerhalb des Olof-Palme-Hauses geparkt und schlenderte am Sportgelände an der Pumpstation vorbei. Während Mozart damit beschäftigt war, das unbekannte Terrain einem intensiven Geruchstest zu unterziehen, verloren sich Johannes‘ Gedanken in der Vergangenheit. Sie waren an jenem Tag hängen geblieben, an dem er hier einmal mehr ein bereits vor dem Anpfiff verlorenes Fußballspiel bestritten hatte. Er hatte wegen der Vorfreude auf das Spiel nicht an eine ordentliche Verpflegung während des heißen Sommertages gedacht. Nach der Niederlage rannte er auf dem Milchweg an den Kaiserteichen vorbei. Er lief so lange, bis sein Körper keine Energie mehr abgab. Unter einem Schwindel tappte er zum bräunlichen Wasser der Kinzig, die sich auf einer Seite des Weges träge von der Stadt her ihrer Mündung in den Main entgegen schlängelte. Er schlürfte gierig das Wasser in sich hinein, ohne auf den fauligen Geruch zu achten. Die folgenden drei Tage waren die schlimmsten in seinem Leben. Seine Mutter sagte ihm, sein Gedärm sei verhext, und sie müsse den Fluch schnellstens vertreiben. Dabei hielt sie wie eine verschlagene Fee mehrere Fläschchen hoch, deren Inhalte sich nach der Einnahme als die geschmacklich bitterste Erfahrung herausstellte, an die er sich erinnerte. Nicht einmal die Zuckerwürfel konnten das scheußliche Aroma mildern. Außerdem ließ seine Mutter den Zucker ab dem zweiten Tag weg, weil er ihn stets wieder auskotzte. Johannes überlegte, ob er die Haare noch besäße, wenn er das Wasser nicht getrunken hätte. Aber dann wäre er wahrscheinlich spätestens am Kanaltorplatz verdurstet. Sein Bruder Randy hatte ihn früher öfters aufgezogen, wenn er die Darmkolik und den Haarausfall als Spätfolge in Verbindung gebracht hat.
Mozart war bereits an der nächsten Querstraße angekommen. Wie er es gelernt hatte, wenn mehrere Richtungen eingeschlagen werden konnten, setzte sich der Conti auf die Hinterbeine und drehte den Kopf vorwurfsvoll Johannes zu. Als dieser die Kreuzung erreicht hatte, bog er ohne zu zögern nach links in den Salisweg ein und ging in Richtung des Kesselstädter Altstadtkerns. Mozart trottete unter den Salven diverser Schneuzer hinter ihm her, als wolle er sagen: »Hab‘ ich’s doch gewusst. Genau da wäre ich auch entlanggegangen. Aber der Herr musste ja ewig auf sich warten lassen.«
Der Eingang des Hauses in der Altstadt war Johannes früher nie aufgefallen. Er erinnerte an zwei Deckelhälften eines Fasses. Über der Tür bildeten verschnörkelte Buchstaben die Worte ‚Diogenes Palace‘. Der Name war nicht auf Anhieb zu erkennen, da sich die Farbe der Buchstaben kaum von der des Sandsteins der Hausfassade abhob. Doch das war der Name, den Paul Bux in seiner WhatsApp an Johannes erwähnte. Er hatte geschrieben: »Du findest den Vater von deiner Anni in Kesselstadt unten im Diogenes Palace.«

Kapitel 9 – „Sandkastentod“

In der Tat hatte er Paul beauftragt herauszufinden, was es mit dem Foto in Annis Brieftasche auf sich hatte. Der einzige Hinweis, den er Paul geben konnte, war, dass es identisch mit dem Bild über der Küche von Milos Kneipe in der Nähe der Eberhard-Realschule Anfang der Siebziger war. Johannes hatte nicht wirklich angenommen, von diesem Paul Bux irgendwelche verwertbaren Hinweise zu bekommen. Er hatte ihn immer noch für ein Großmaul gehalten. Das hatte sich geändert, als Paul ihm jene Information gab. Als Johannes wissen wollte, wie verlässlich seine Quelle sei, antwortete Paul in einer weiteren WhatsApp-Nachricht: »Die Alten in der jüdischen Gemeinde reden über nichts lieber als die Vergangenheit. Milo und seine Bilder kannte jeder Schläfenlockenträger dort. Mit Stolz plapperten die über die Schauspieler, Sänger und Freiheitskämpfer auf den Fotos in seiner ehemaligen Kneipe. Und als sie erfuhren, das jüdische Museum in Hollywood sei wegen einer Ausstellung auf der Suche nach alten Fotos von in der Nazizeit verfolgten jüdischen Künstlern, hatte ich die Adresse des Weinkellers in Kesselstadt, bevor ich Schalom rufen konnte.«
Johannes schüttelte den Kopf, als er erneut über den Text auf seinem Smartphone schaute. Jüdisches Museum in Hollywood – was ein genialer Spinner, dachte er. Dann fasste er den Griff einer Fassdeckelhälfte und zog die Tür auf. Eine schwach beleuchtete steinerne Treppe führte nach unten. Während Johannes zögerte, schlüpfte Mozart durch seine Beine und hoppelte über die Sandsteinschwellen in die Dunkelheit. Johannes folgte ihm so schnell er konnte, sobald er den Handlauf ertastet hatte. Nachdem sich die Holztür mit einem Knall geschlossen hatte, brauchten seine Augen einen Moment, um sich an das diffuse Licht zu gewöhnen. Unterhalb der Treppe angekommen, sah er mittlerweile so gut, dass er den Gastraum in Hufeisenform ausmachen konnte. In der Mitte befand sich eine Bar, die unbesetzt war. Ihm fielen zahlreichen dunklen Nischen auf, in denen Gäste schwer zu erkennen wären. Johannes schaute genau in jede Nische hinein, aber konnte niemanden entdecken. Das Diogenes Palace war menschenleer. Plötzlich vernahm er das rhythmische Quietschen einer Schwingtür.
»Pronto, Seniore?«
Nachdem sich Johannes umgedreht hatte, erkannte er hinter der Bar einen jungen Mann in einem weißen Hemd und einer schwarzen Schürze, der ihm lächelnd entgegenblickte. Er war höchstens 22 Jahre alt und trug seine schwarze Locken bis in den Nacken.
»Sie sind kein Italiener, nicht wahr?«
Die Mundwinkel des Jungen sanken nach unten. »Wie bitte?«
Johannes zwinkerte ihm zu. »Dachte ich es mir doch.«
»Ja, nein, ich meine, Sie haben recht. Aber woran erkennt man es?« Der Kellner klappte den Tresen an einer Stelle nach oben und kam mit einem erstaunten Ausdruck auf Johannes zu.
»Weil ihr Spanisch besser klingt als ihr Italienisch, mein Lieber. Kann ich hier etwas zu trinken bekommen, oder haben Sie geschlossen?«
Der Junge gewann sein Lächeln zurück. »Natürlich haben wir geöffnet. Wie kommen Sie darauf, es sei nicht geöffnet?«
»Nun, ich denke, das ist ein ganz netter Ort, wenn die Speisekarte noch einigermaßen gut sortiert ist. Aber wo sind die Gäste?«
Der Kellner schien erleichtert. »Ach, das meinen Sie. Die frühsten Reservierungen gibt es heute erst ab halb acht.«
In diesem Moment kam Mozart von seinem Erkundungsgang um die Bar herumgeschwänzelt und beschnüffelte ausgiebig den Hosensaum des jungen Mannes. Dieser ging sofort in die Hocke und begrüßte den Conti überschwänglich. »Mann, siehst du cool aus. Hier unten würde dich kaum jemand entdecken. Wie heißt er denn?«
»Falls er Italiener wäre, Puccini. Aber wir sagen Mozart zu ihm.« Johannes grinste den Kellner an und wandte sich dann interessiert den Bildern zu, die jeden freien Platz an den Wänden und über der Bar belegten. »Was sind das denn? Schauspieler?«
Der Junge gab Mozart noch ein paar Klapse auf den Po und stand mit einem Ruck auf. »Mein Name ist übrigens Roberto.«
Johannes hob die Augenbrauen.
»Nun ja, eigentlich Robert, aber das bringt nicht so viel Trinkgeld.« Mit einer spitzbübischen Grimasse schaute er Johannes an.
Der erwiderte das Grinsen und deutete erneut auf die Bilder. »Also, Roberto, wen sehen wir hier?«
»Tut mir leid, mein Herr, Auskunft nur gegen Bestellung.« Dabei behielt er das schelmische Lachen bei und schlenderte zurück hinter die Bar.
»Sie sind geschäftstüchtig, Roberto. Ist wohl auch von Nöten bei dem Betrieb hier. Ich nehme einen Chablis, falls Sie einen akzeptablen anbieten können.«
Einen kurzen Moment lang versank Roberto in einem Zustand, als trügen ihn seine Gedanken in ein anderes Land. Dann legte er den Kopf schräg und fragte: »Grand Cru Les Preuses? Die Flasche 86 Euro.«
»Ausgezeichnete Wahl. Ich nehme ein Glas und hoffe auf die richtige Temperatur.«
Der Kellner zog ein Weinglas aus der Halterung, hielt es gegen eine der spärlichen Beleuchtungen und rieb es mit einem Handtuch nach. Nachdem er es auf den Tresen gestellt hatte, öffnete er ein Kühlfach und zog eine grüne Flasche heraus. »Sie haben Glück, dass ein Stammgast ausschließlich Chablis trinkt. Deshalb haben wir immer eine Flasche vorrätig.«
Der rationale Teil von Johannes‘ Gehirn besprach sich augenblicklich mit den kreativ-fantastischen Elementen seiner Gedanken und kam zu einer wundersamen Annahme, deren Auswirkungen er erst in Ruhe überdenken wollte. Außerdem war ihm Roberto noch eine Antwort schuldig. »Raus mit der Sprache, sind das nun Schauspieler oder Sänger?«
Roberto schmunzelte, als er das Glas mit dem Chablis, das an einigen Stellen schon angelaufen war, Johannes reichte. »Sowohl als auch. Auf den Fotos sehen Sie Berühmtheiten aus Film, Funk und Fernsehen, wie es so schön heißt. Außerdem Politiker und Leute, die sich um das Herkunftsland meines Chefs verdient gemacht haben.«
»Das sind aber keine Italiener«, erwiderte Johannes, dessen Blick eifrig umher huschte. Als er das Bild von Annis Vater entdeckte, war es wie der Blick durch ein Fenster in die Vergangenheit. Langsam näherte er sich dem Porträt, als ginge eine Gefahr von ihm aus.

Verdammt, dachte Johannes und warf das Fußball-Sammelbild mit dem Konterfei von Matthias Hemmersbach vom 1. FC Köln auf den Haufen doppelter Exemplare. Als Nächstes zog er Peter Grosser von 1860 München aus der Packung und schleuderte ihn gleich hinterher. Wo blieben Overath und Held? Betrübt schaute er in sein Album mit den wenigen leeren Stellen. Dann schnappte er sich den Haufen mit den ‚Doppelten‘ und begann die Bilder zu zählen. Er stellte fest, dass fast sieben Mark in wertlosen Sammelbildern vor ihm lagen. Er hatte schon alle Stücke getauscht, für die es auf dem Schulhof eine Nachfrage gegeben hatte. Trotzdem waren so viele Duplikate übrig geblieben. Kurz überlegte er, ob es Sinn hätte, drei oder vier Alben anzulegen. Aber er verwarf diesen Gedanken wieder, denn dann hätte er ja auch auf vier Overaths und Helds warten müssen, und er bezweifelte, dass man überhaupt so viele gedruckt hatte. Aufgeben wollte er trotzdem nicht.
Johannes schlurfte in die Küche, wo er das Glas mit dem Mehlkleister ausspülte. Dann zog er Schuhe und Cordjacke an, schnappte sich den Stoß doppelter Sammelkarten und verließ die Wohnung. Er würde alle Grossers und Hemmersbachs dieser Welt gegen irgendetwas eintauschen, und wenn es nur eine Zweiermurmel wäre. Hauptsache er wurde nicht mehr daran erinnert, wie viel Taschengeld er schon verplempert hatte. Als er beim Wasserhäuschen vorbeikam, sah er den alten Milke, wie der die Fahrertür seines weißen Ford 17m zuschloss, und überlegte kurz, ob Johannes‘ Konsum an Fußballbildern den neuen Wagen finanziert hatte. Am Schlendergässchen hörte er wildes Geschrei, welches ihm zwischen der alten Stadtmauer und dem Moulin Rouge entgegenschallte. Johannes erkannte Fritzels Organ und rannte von Neugier getrieben durch die enge Gasse in Richtung der alten Johanniskirche. Aus der Entfernung beobachtete er Fritzel, der wie Rumpelstilzchen vor der Treppe zur Kirche herumtanzte und dabei etwas in der Hand hielt, das er wild durch die Luft wedelte. Als Johannes ihn erreicht hatte, brüllte Fritzel ihm entgegen.
»Der Superzwilling! Ich hab die einzig beiden Overaths von der ganzen Welt!« Dabei wedelte er mit den Karten vor Johannes‘ Nase herum.
Der grabschte nach dem hektisch umherschwingenden Arm und starrte auf die zwei Overaths, die ihm mit ernster Miene aus dem Trikot des 1. FC Köln entgegenblickten. »Wo hast du die her?«
»Von den Milkes. Waren beide in einer Packung. Die sind bestimmt zusammen eine Million wert.«
»Aber du sammelst doch gar keine Fußballbilder. Komm, ich tausche mit dir.« Dabei zog Johannes sein Bündel mit den doppelten Karten aus der Jackentasche.«
»Ui, das sind aber eine Menge. Wie viel sind das?«
Johannes überlegte kurz. »Zirka tausend Karten. Damit bist du der König von Hanau.« Er hoffte, den kleinen Geist Fritzels damit zu übertölpeln. »Die bekommst du alle für einen von den Overaths.«
Als Johannes nach einer der Karten greifen wollte, zog Fritzel seine Hand weg. »Die sind nur zusammen eine Million wert.«
»Das ist Blödsinn. Der Blaschke hat auch zwei«, log Johannes, »und Anni hat mir den auch schon mal gezeigt. Ich selbst brauche ihn auch nur für mein drittes Album.« Er reichte Fritzel den Stoß Karten und starrte auf die Rotzlawine unter seiner Nase, als wäre sie ein Barometer, das anzeigt, wie er sich entscheiden würde.
»Ist mir egal. Helmut hat schon danach gefragt. Er ist gerade drinnen, um mir seine goldene Trillerpfeife zu holen. Die soll sogar noch mehr wert sein, als eine Million. Ist von seinem Großvater, der mal Pirat war, hat er gesagt.«
Bevor Johannes etwas erwidern konnte, kam der gerissene Helmut auch schon aus der Haustür gestürmt. In diesem Moment wusste Johannes, dass er das Bietgefecht um Wolfgang Overath verloren hatte. Er blieb lediglich neben Fritzel stehen, um mitzuerleben, mit welcher Dreistigkeit Helmut diesmal seinen Willen durchsetzte. Als er die Trillerpfeife an einem Schnürsenkel baumelnd Fritzel vor die Nase hielt, konnte Johannes sehen, dass die Metallpfeife mit goldener Wasserfarbe angemalt war, die noch feucht in der Sonne glänzte. Deshalb wollte er einen letzten Versuch starten. »Fritzel, du Trottel, das ist doch kein Gold, sondern Farbe.«
Helmut schob sich vor Johannes‘ Blickfeld. »Halt die Fresse, Wilke. Oder willst du meinen Opa beleidigen. Ich hau dir …«
In diesem Moment schnappte sich Fritzel die Trillerpfeife, steckte sie in seinen Mund, blies kräftig hinein, dass Johannes die Ohren klingelten, und drückte Helmut eine der beiden Sammelbilder in die Hand.
Augenblicklich grapschte Helmut auch nach der anderen Karte. »Die war für beide Karten, du Depp.« Dann steckte er beide Bilder in die Gesäßtasche seiner Jeans und eilte zurück zur Haustür. Kurz bevor er dahinter verschwand, rief er Fritzel noch zu: »Morgen krieg ich die Pfeife wieder, sonst setzt’s was.«
Johannes schaute Fritzel wütend an.
Der grinste verlegen zurück, wobei seine mit goldener Farbe verschmierten Lippen in der Sonne glänzten. »Das meint der nicht so. Vielleicht verkauf ich die Pfeife schnell noch meinem älteren Bruder heute Abend. Der kennt sich damit aus. Verkauft auch dauernd Autos und teure Sachen und so.« Dann steckte er sich die Trillerpfeife wieder in den Mund und hüpfte davon, wobei ihn ein rhythmisches schrilles Geräusch begleitete.

Als sein Blick in das Konterfei von Annis Vater eintauchte, dachte Johannes unwillkürlich an Wolfgang Overath, dessen Sammelbild er nie bekommen hatte. Er musste kurz auflachen, als ein Bild durch seine Gedanken flatterte, auf dem Paul Bux ihm mit goldenen Lippen entgegen grinste.
»Lachen Sie bloß nicht über ihn, wenn der Chef da ist.«
Johannes drehte sich erschrocken um. »Wieso? Wer ist das?«
»Ist ein Heiliger.«
»Verstehe ich nicht. Dachte, ich hätte ihn aus einem Hollywoodfilm erkannt.«
»Jeffrey Kohn? Nein, mein Herr, das ist kein Schauspieler.«
»Sondern?«
Roberto verzog abwägend den Mund. »Ich schätze, bei allem, was ich gehört habe, so ein Zwischending aus Indiana Jones und Che Guevara. Halt nur jüdisch.«
»Das ist Steven Spielberg auch. Also war ich doch gar nicht so weit weg von Hollywood.«
Der Kellner lachte kurz auf. »Da haben Sie vielleicht recht, nur dass der da ein richtiger Abenteurer und Kämpfer war. Schauen Sie hier.« Roberto zeigte auf ein Bild daneben, das Johannes nicht aufgefallen war. Es zeigte Jeffrey Kohn mit der berühmtesten Augenklappe der israelischen Geschichte – Moshe Dajan. Beide saßen oben auf einem Panzer und lachten in die Kamera.
»Der Sechstagekrieg«, konstatierte Johannes.
»Glaube schon, aber in der Hauptsache hat er solche religiösen, mystischen Gegenstände aufgespürt.«
»Reliquien?«
»Ja, genau.«
»Hier in Hanau?«
Wieder kicherte Roberto wie ein kleiner Junge. »Nee, nicht in Hanau, aber ich habe mal gehört, dass er sie hier bei den Amis untergebracht gebracht haben soll.«
»Du meinst, er hat Reliquien hier gelagert?«
»Richtig. Man sagt, er habe sie den alten Nazis abgenommen, die sich damit irgendwo in der Welt verkrochen haben. Als ich geboren wurde, waren die Amis schon weg aus Hanau. Aber früher müssen die hier viele seltsame Dinge gehortet haben.«
Mit dem Knurren in Mozarts Kehle öffnete sich oben die Eingangstür. Johannes schaute sich hastig um und deutete auf die dunkelste Nische, die er ausmachen konnte. »Roberto, ich ziehe mich mit Mozart dorthin zurück, damit er die Gäste nicht erschreckt. Muss auch keiner wissen, dass ich hier bin. Hab’s nicht so mit geschwätzigem Publikum.« Diesem Satz warf er ein kurzes Zwinkern hinterher.
»Verstehe«, erwiderte der Kellner mit tiefgründigem Nicken und drückte Johannes das Weinglas in die Hand.
Als er in der dunklen Ecke Platz genommen hatte, gebot er Mozart mit kurzem Schnippen der Finger unter der Holzbank Platz zu machen. Währenddessen hörte er auf die Schritte von der Treppe, die den Gast ankündigten. Robertos kurze, unverbindliche Begrüßung ließ Johannes vermuten, dass der Gast zwar in diesem Lokal bekannt war, aber über wenig Empathie verfügte.
»Ich nehme den üblichen Tisch«, näselte eine Johannes wohl bekannte Stimme.
Als die Lichter der Bar die Gestalt des Gastes anstrahlten, wurde Johannes‘ Vermutung bestätigt. Ruben Pirkner schlich an Roberto vorbei zu einem Tisch, der sich zwar am anderen Ende des Gastraumes befand, Johannes aber dennoch einen freien Blick darauf gewährte. Er selbst hoffte, genügend im Schatten zu sitzen, um nicht erkannt zu werden. Als er an seinem Chablis nippte, vernahm er ein weiteres Mal das Knarren der Eingangstür. Der Klang der Schritte auf der Treppe rührten diesmal ohne Zweifel von einer Frau her. Das ließ auch der Ausdruck von Roberto erkennen, der von der Bar aus einen direkten Blick auf die Treppe hatte. Sein Gesicht begann augenblicklich zu strahlen.
»Hallo, Dana!«
»Hallo, mein Süßer«, antwortete die Oberkommissarin, als sie im Gastraum angekommen war. »Geht es dir gut, Schnuckelchen?«
»Alles bestens, Dana. Das Übliche?«
»Du hast es erfasst, Sweetheart.«
»Der Chablis kommt sofort.«
Johannes hoffte inständig, dass Roberto jetzt nicht etwas Dummes herausrutschte wie: Da sind Sie schon zu zweit. Aber der schien von der intelligenten Sorte zu sein. Er schaute nicht einmal zu Johannes hinüber, um ihm eventuell zuzuzwinkern. Dana nahm das Glas, welches Roberto ihr reichte, stöckelte auf Rubens Tisch zu und setzte sich dem Küster gegenüber. Das folgende Gespräch zwischen den Beiden wurde in einer Lautstärke geführt, die nur erahnen ließ, was der Inhalt war. Anscheinend informierte Dana Ruben über jemanden, um den er sich ‚kümmern‘ sollte. Ein Name wurde nicht genannt. Stattdessen holte Dana einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb etwas auf einen der umherliegenden Bierdeckel und reichte ihn Ruben. Der zuckte kurz mit den Schultern, als er das Geschriebene las. Daraufhin redete Dana erneut energisch auf ihn ein. Schließlich nahm sie einen Schluck aus dem Weinglas, stand auf und legte Roberto mehrere Geldscheine auf den Tresen. Während sie zum Aufgang stöckelte, entwich ihrer rauchigen Stimme ein: Ciao, Bello. Und für einen Augenblick vermutete Johannes, von ihr erkannt worden zu sein, weil er Mozart, der Dana begrüßen wollte, leise einen weiteren Befehl gegeben hatte, sich ruhig zu verhalten. Doch ihr Blick war starr nach vorne gerichtet, als sie die Nische passierte und anschließend der Treppe nach oben folgte. Als sich die Tür schloss, atmete er tief durch.
Ruben saß wie ein schmollendes Kind versunken in seinem Sitz und spielte mit dem Bierdeckel in der Hand herum. Johannes hätte zu gerne gewusst, welche Beziehung Dana und Ruben zueinander hatten und was auf dem Deckel stand. Er gab seinem Plan noch ein paar Momente, um zu reifen. Dann stand er abrupt auf und schritt aus seiner Nische. »Was würde wohl dein Pfarrer sagen, wenn er dich hier in einer Kneipe finden würde, obendrein in einer jüdischen?«
Ruben schreckte hoch, als stünde der Leibhaftige vor ihm. Nachdem er sich gefasst hatte, verdüsterte sich sein Ausdruck. »Wilke, du hängst an mir wie die mittelalterliche Pest. Welcher wahnsinnige, verzweifelte Geisterbeschwörer hat dich aus deiner Flasche befreit?«
»Im Moment siehst du hier wesentlich deplatzierter aus, als ein Gast, der sein Glas Wein genießt.«
Roberto ließ ein prustendes Geräusch hören und wandte sich grinsend dem Spülbecken hinter der Bar zu, nachdem er einen bösen Blick von Ruben geerntet hatte.
Mozart kam jetzt von seinem Platz in der Nische getrippelt und baute sich neben Johannes auf.
»Wie ich sehe, hast du deinen Flohtransporter dabei. Darf der überhaupt in Gaststätten rein? Was sagt denn da das Gesundheitsamt, Roberto?«
Der Kellner machte keinerlei Anstalten, sich von seiner spülenden Tätigkeit ablenken zu lassen.
Johannes sah, dass Ruben in diesem Moment den Deckel mit der Nachricht von Dana auf den Tisch legte und zischelte Mozart zu: »Katze, Katze.« Augenblicklich ließ der Conti das übelste Grollen hören, das in ihm steckte.
»Ruf deine Töle zurück, Wilke. Sonst kriegst du eine Anzeige, die sich gewaschen hat. Ich kenne Leute bei der Polizei, die …«
»Tut mir leid Ruben, das ist eine Macke von ihm. Wenn’s bei jemandem nach Fisch stinkt, flippt der völlig aus.«
»Was erzählst du da für einen Quatsch? Beruhige das Tier, oder ich lasse es erschießen.«
»Das wird nicht notwendig sein. Ich brauche nur eine Serviette.«
Ruben hatte die Beine nach oben auf die Bank gezogen und deutete hektisch auf die Gedecke auf dem Tisch vor ihm.
Johannes schnappte sich eine Stoffserviette und faltete sie zu einer Binde, die er Mozart über die Augen legte. Gleichzeitig schnippte er leise mit den Fingern. Augenblicklich verstummte Mozarts Grollen. Dann wandte er sich Roberto zu. »Was hat ihnen die Dame für den Chablis gegeben?«
Roberto überlegte kurz und antwortete: »Fünfunddreißig.«
Johannes legte ihm zwei Zwanziger auf die Theke und sagte: »Ist ein guter Tag heute, was?«
Der Kellner nickte ihm wertschätzend entgegen.
Dann drückte Johannes dem jungen Mann noch die Serviette in die Hand, nachdem er von Ruben abgewandt den Bierdeckel herausgezogen hatte und in seinem Jackett verschwinden ließ.
»Danke, mein Herr und einen schönen Tag noch«, sagte Roberto freundlich.
»Ihnen auch, Roberto. Ausgezeichneter Chablis.« Unter breitem Grinsen folgte er dem Conti die Treppe nach oben und ließ Rubens Fluch, der ihm hinterhergeschrien wurde, unbeantwortet.

Auf dem Weg zurück zu dem Volvo vergewisserte sich Johannes, dass der Küster ihm nicht folgte. Dann zog er den Bierdeckel aus der Jacketttasche. Was er darauf lesen konnte, bereitete ihm erst ein Stirnrunzeln, dann versuchte er, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Doch es gelang ihm nicht. Er knickte die Pappe so lange zusammen, bis niemand mehr hätte erkennen können, was Dana darauf geschrieben hatte: Paul Bux.


Dieses kurze Weihnachtskapitel ist schon zu Ende. Fortsetzung folgt.

Hier bekommt ihr einen Überblick:

Mel

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