Kapitel 7 – „Sandkastentod“

Christmas Special

Kapitel 7 – „Sandkastentod“
VII.

»Kommen Sie schon, erlösen Sie mich, Frau Pirkner.« Johannes steuerte die Ansicht von Paly Root zurück auf die schneebedeckte Metzgerstraße und hinauf zum Altstädter Markt. Wulste aus Schnee hingen wie Wattebäusche vom Goldschmiedehaus herunter. Schemenhaft konnte er nach ein paar Minuten Gestalten auf dem Bildschirm erkennen, die sich ihren Weg durch das winterliche Hanau bahnten. Er wollte die Menschen wieder zum Laufen animieren und bewegte den Stundenregler vorwärts.
»Du grinst wie ein Honigkuchenpferd, weißt du das überhaupt?« Marie war schon mit Hut und Mantel gewappnet.
»Marie, das hier ist einmalig. Es zeigt die Vergangenheit. Meine Vergangenheit.«
Sie tippte Johannes mit der Spitze ihres Fingernagels auf die Mitte seiner Platte. »Das ist ein Feature dieser Applikation. Ein Trick, der imaginäre Menschen und Autos per Algorithmus in das Programm hineinrechnet, damit du nostalgische Gefühle bekommst, und das hier benutzt, statt Google Maps. Ein Werbegag, sonst nichts. Schließlich haben sie den Namen des Programms noch mit einem Anagramm einer mystischen Botschaft versehen und werden es für Millionen vermarkten. Du wirst schon sehen. Melancholie als Werbegag, ich werd‘ nicht mehr.« Sie küsste ihn auf die Stelle, die ihr Fingernagel gepikst hatte. »Habe jetzt einen Termin mit dem Typ vom Hessischen Rundfunk. Heute Abend Italienisch oder beim Inder?«
Johannes stützte den Kopf auf beide Hände und starrte weiter kommentarlos auf die winterliche Altstadt.
»Nun gut, überlassen wir es Mozart. Er wird uns schon irgendwohin ziehen.« Dann stöckelte sie eilig aus dem Apartment.
Nachdem er das Geräusch der zuschlagenden Tür wahrgenommen hatte, wollte er Marie noch zurufen, ob sie am Abend lieber zu Mario oder ins Taj Mahal gehen wollte. Er merkte aber schnell, dass er den Zeitpunkt, zu dem diese Frage sinnvoll gewesen wäre, verpasst hatte, und wandte sich wieder seinem Laptop zu. Er hatte den Regler so weit geschoben, dass es dunkel geworden war, und der Altstädter Markt und das Goldschmiedehaus immer noch in der Weihnachtsbeleuchtung von 1965 erstrahlten. Er ließ sich von dem die Lichter reflektierenden Schnee hypnotisieren und merkte nicht, dass er erstarrte. Nur seine Gedanken arbeiteten rege und führten ihn noch weiter zurück. Den Zeitpunkt, an dem sie anhielten, konnte er nicht bestimmen, aber er musste fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Die vier Engel des Porzellanweihnachtskranzes hielten zwei Kerzen, deren Docht schwarz war, und zwei unbenutzte. Er hatte die Vorweihnachtszeit geliebt. Ein Geruch stieg ihm jetzt in die Nase, den er schon lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Eine Mischung aus Möbelpolitur und den Mentholzigaretten seiner Mutter. Johannes befand sich in der Wohnung am Freiheitsplatz. Er saß mit seiner Mutter an dem kleinen Tisch in der winzigen Küche, die ihm damals so riesig vorgekommen war. Sein Vater war auf der Nachtschicht. Nur wenn er da war, konnte Johannes ruhig einschlafen. Er spürte, dass ihn seine Erinnerungen zu jenem Abend zurückgetragen hatten, an dem alles angefangen hatte. Dieser Abend, der die Angst erfand; an dem ihm bewusst wurde, wie gefährlich diese Stadt sein konnte, wenn man sich nicht mit ihr verbündete.

»Es ist erst sechs Uhr, Mama. Siehst du, der große Zeiger ist oben und der kleine unten. Lass‘ uns die Märchen in den Schaufenstern vom Hansa und Kaufhof angucken.«
Seine Mutter tunkte die Teller in das Spülwasser und wischte mit dem Lappen darüber. »Kaufhof? Das ist mir viel zu weit. Es ist bitterkalt da draußen.«
»Dann nur zum Hansa. Das ist grad über die Straße. Bitteee.«
»Du kannst ganz schön nagend sein, wenn dein Vater nicht zu Hause ist.« Mit einer ungeduldigen Geste drehte sie einen der Teller im Trockenhandtuch und schaute sehnsüchtig durch das Küchenfenster in Richtung der Altstadt. »Aber weißt du was? Wir können zum Goldschmiedehaus gehen. Dort ist heute der Weihnachtsmann und fährt die Kinder mit seinem Schlitten durch den Schnee.«
»Der Nikolaus? Boah!«
»So stand es heute im Hanauer Anzeiger. Um sechs geht es los.«
Plötzlich bekam Johannes einen panischen Gesichtsausdruck, rannte in sein Zimmer und schnappte sich seinen Mantel. Anschließend schlitterte er auf seinen Socken durch den Flur zu seinen Winterstiefeln, die durchnässt auf mehreren Lagen Zeitungspapier standen. »Wir werden ihn noch verpassen. Komm‘ schon, Mama. In einer Minute können wir da sein.«

Johannes zog seine Mutter die Marktstraße hoch. Er wäre gerne gerannt, doch ihr fester Griff verhinderte das. Als sie am Altstädter Markt ankamen, erwartete sie bereits eine Traube von Menschen. Die Kinder drängten zum Gerechtigkeitsbrunnen vorm Goldschmiedehaus. Seine Mutter ließ unvermittelt seine Hand los. Als Johannes zu ihr hochschaute, schien sie auf ihren Stöckelschuhen die Menge zu überragen. Erst jetzt bemerkte er, dass sie unter ihrem Pelzmantel ihr schickes Kostüm trug. Ihr strenger Blick hatte sich wieder mit Unruhe gefüllt und streifte über die Menge, als suche sie etwas oder jemanden. Johannes zupfte an ihrem Mantel. »Wo ist der Nikolaus?«
»Der ist grad mit der ersten Fuhre unterwegs.« Es war Fritzel, der statt der Mutter antwortete, die immer noch damit beschäftigt war, über die Menge zu spähen. Ihm hing ein riesiger Tropf aus Rotze aus einem Nasenloch, der beim Reden Blasen bildete. »Die Militärpolizei hat vorne alles abgeriegelt.«
»Was macht die denn hier?«
»Ich glaube, die suchen ein Dessatier.«
»Ein was?«
»Na, einer, der aus der Kaserne abgehauen ist. Soll ja so wie im Knast dort sein. Vielleicht aber auch, weil viele Ami-Generäle mit ihren Kindern hier sind. Das sind die Einzigen, die hier welche haben dürfen.«
Johannes drehte sich wieder zu seiner Mutter um und zupfte erneut an ihrem Mantel. »Haben die Ami-Soldaten ihre Familien auch hier? Dachte, die leben in den Kasernen und die Kinder in Amerika.«
Seine Mutter schien geistesabwesend, als sie antwortete: »Wohnen und leben auch hier. Viele mit ihren Familien, und manche sind allein, ganz allein.«
In diesem Moment hörte man entfernt Glockengeläut und der Geräuschpegel in der Menge schwoll rasch an. Die Leute reckten ihre Hälse und applaudierten, als der Schlitten mit jubelnden Kindern die Schlossstraße herunterfuhr. Johannes schob sich durch die Menge, ohne auf die Stimme seiner Mutter zu hören, die ihm erst bestimmend, dann flehend hinterherrief, er möge doch in ihrer Nähe bleiben.
Johannes zwängte sich in dem Moment durch die erste Reihe, als der Schlitten zwischen dem Gerechtigkeitsbrunnen und dem Aufgang zum Goldschmiedehaus zum Stehen kam. Fasziniert stierte er auf das Gesicht des Nikolaus‘ und erwartete jeden Moment sein dröhnendes Gelächter. Stattdessen war seine Mimik ungewöhnlich unruhig. Der Mund unter dem buschigen Bart war in stetiger Bewegung. Die Augen waren mit Feuchtigkeit gefüllt und drohten Tränen zu erzeugen, sollte er jetzt blinzeln. Die blauen Wangen durchzogen feine Adern, so wie es Johannes von den Stammtischbrüdern seines Vaters kannte.
Die Soldaten mit den schwarzen Armbinden, auf denen ein weißes ‚MP‘ gedruckt war, hoben die Kinder aus dem Schlitten und setzten andere hinein, die ihren Eltern auf Englisch lautstarken Jubel zuriefen. Johannes nahm seinen ganzen Mut zusammen und winkte dem Nikolaus zu. Als er seine Aufmerksamkeit hatte, rief er: »Darf ich auch mit?« Johannes hatte ein gütiges Nicken oder grimmiges Kopfschütteln erwartet. Stattdessen legte der Nikolaus seine Hände trichterförmig um seinen Mund.
»Has‘de fuffzisch Fennisch?«
Johannes griff tief in seine Taschen, fühlte lediglich ein gehärtetes, benutztes Taschentuch, drehte sich hastig um und schaute, ob er seine Mutter sehen konnte. Als er sich enttäuscht wieder dem Schlitten zuwandte, hatte dieser sich bereits in Bewegung gesetzt. Die beiden Pferde, deren behaarte Stellen über den Hufen er von den Brauereigäulen der Nicolay kannte, zogen den Schlitten schnaubend durch den Schnee um die Ecke des Goldschmiedehauses. Nach wenigen Augenblicken verstummte das Klingeln der Glöckchen des Gespanns hinter der Marienkirche.
Johannes trottete mit gesenktem Kopf zurück durch die Menge, bis er seine Mutter unter einer Laterne an der Ecke zur Marktstraße ausmachen konnte. Ihr strenger Blick verhieß nichts Gutes. Die schallende Ohrfeige bestätigte es.
Johannes rieb sich die Stelle und nuschelte trotzig: »Ich wollte doch bloß den Nikolaus sehen.«
»Du hättest unter die Pferde kommen können.«
»Ach was, die sahen aus wie die lahmen Gäule der Nicolay Brauerei. Hätte ich fünfzig Pfennige gehabt, hätte mich der Nikolaus mitgenommen.«
»Das hätte gerade noch gefehlt. Für so was gibst du mein sauer verdientes Geld nicht aus!«
»Ist das denn nicht der echte Nikolaus gewesen?«
»Glaubst du, der wäre auf dein Taschengeld angewiesen?«
In diesem Moment rannte Fritzel an ihnen vorbei. »Da hinten kommen sie wieder.«
Johannes nahm seine Mutter an der Hand, um sicher zu gehen, keine weitere Ohrfeige zu fangen, und zerrte sie zurück auf den Platz. Aus der Schlossstraße ertönte erneut das Geläut des Schlittens, und der Jubel der Menschen stieg wieder an, bis er abrupt verstummte. Vereinzelte Schreie waren durch die Stille zu hören und jemand rief den Militärpolizisten auf Englisch Befehle zu, die sie salutierend annahmen.
»Warte, Johannes, was ist denn los?«
»Komm Mama, es muss etwas passiert sein. Das spüre ich.« Er zog seine Mutter durch die Menge, die mit Mühe hinter ihm durch den festgetretenen Schnee stöckelte. Dann ließ sie seine Hand los. Erschrocken drehte sich Johannes um, aber ihre Geste bedeutete ihm, es wäre in Ordnung, allein weiterzulaufen. Wieder drängte sich Johannes durch die ersten Reihen und konnte rechtzeitig sehen, wie zwei Militärpolizisten die Pferde am Geschirr zu fassen bekamen und anhalten konnten. Ein Aufschrei durchschnitt das Gemurmel der Menge. Irgendwo fing ein Mädchen an zu weinen. Johannes starrte auf den Schlitten. Die Kinder und der Weihnachtsmann waren verschwunden. Johannes erschrak, als sich ein Arm um seine Schultern legte.
Seine Mutter zog ihn sanft aber bestimmt aus der Menschentraube, die sich dicht um den leeren Schlitten drängte. Auf dem Bürgersteig der Marktstraße richtete sie seinen Mantel. »Es wird Zeit. Wir müssen jetzt gehen.«
»Aber der Nikolaus ist verschwunden und die Kinder.«
Seine Mutter schaute kurz zurück auf die Kulisse vor dem Goldschmiedehaus. In der Ferne tönten mehrere Polizeisirenen. »Die Polizei wird sie wiederfinden«, sagte sie mit strengem Blick, »nicht du, Johannes Wilke.«

Kapitel 7 – „Sandkastentod“


Dieses kurze Weihnachtskapitel ist schon zu Ende. Fortsetzung folgt.

Hier bekommt ihr einen Überblick:

Mel

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