Juli Zeh. Unterleuten

Es ist immer ein Ereignis, einen Autor oder eine Autorin live zu erleben. Ein ganz besonderes Highlight war ganz sicher die Lesung von Juli Zeh im ausverkauften Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 18. März 2016, moderiert von Literaturkritiker Jörg Magenau.

Auf die Frage, ob “Unterleuten” ein Liebesroman oder gar ein Krimi sei, antwortet Juli Zeh, dass das von ihr gewählte Label ein Gesellschaftsroman sei – einen solchen zu schreiben, sei immer ihr Traum gewesen. Im kleinen fiktiven Ort Unterleuten in Brandenburg lässt sie wenige Figuren miteinander agieren. Was dort passiert, das könne überall geschehen. Atmosphärisches kann ich mir nicht ausdenken, sagt Juli Zeh und meint damit, dass sie die Orte der Romane immer auch für längere Zeit aufsuchen würde. Zeh betont, Unterleuten sei aber NICHT (!) das Dorf, in dem sie lebe. Leute aus ihrem Dorf zu beschreiben, das würde gar nicht funktionieren. Lachend hängt sie an, sie sei schließlich von Beruf Juristin!

Eine der spannendsten Fragen war, in welcher Figur Juli Zeh sich selbst sehen würde. Überraschend ihre Antwort, dass in jeder Romanfigur Facetten ihrer Person verarbeitet seien. Am meisten würde sie sich allerdings mit Kron identifizieren, womit sie nicht nur das Publikum sondern auch Jörg Magenau verblüfft.

Zehn Jahre hat Juli Zeh an diesem Roman gearbeitet. Einem Roman, den man trotz seiner 635 Seiten in wenigen Tagen durchliest, der so voller Spannung und Tempo ist mit den ständig wechselnden Innenperspektiven der handelnden Personen, dass man beim Lesen schon auch mal Zeit und Raum vergisst. Juli Zeh katapultiert uns direkt nach Unterleuten …

Juli Zeh. Unterleuten Juli Zeh. Unterleuten

Im nordwestlichen Brandenburg liegt die Ostprignitz. Und in der Ostprignitz der Ort Unterleuten mit ca. 200 Bewohnern. Es ist das Jahr 2010. Hochsommer. Glühende Hitze. Doch die dörfliche Stille ist trügerisch, die Idylle suspekt. Denn weil Nachbar Bernd Schaller im Garten Autoreifen verbrennt, können Jule und Gerhard Fließ kein Fenster öffnen. Schaller – das ist Jules und Gerhards persönliches Armageddon.
Ganz im Gegensatz zu Schaller ist Gerhard ein Mensch, der Dinge erhalten will. Als Vogelbeobachter kämpft er gegen die im Dorf geplante Windkraftanlage. Er lebt mit Jule und dem gemeinsamen Baby in diesem alten Haus, wo ihn sogar die 100 Jahre alte Messingklinke glücklich macht. Diese Türklinke, die schon viele Menschen überlebt hat, und die auch ihn überleben wird. Einen Neubau, in dem alles jünger war, als er selbst, hätte er nicht ertragen (S. 15). Gerhard mit seinem Sinn für das Bewahren alter Dinge und seiner Liebe für die Brandenburger Vogelwelt bleibt im Dorf ein belächelter Außenseiter.

Überhaupt ist so ein Dorf ja ein ganz eigener Kosmos. Geht es um Kleinigkeiten, wird viel gestritten und gelästert. Geht es aber um große Dinge, wie die Verhinderung einer Abwasseranlage oder eines vernünftigen Gehwegs, so halten alle geschlossen zusammen. Auch wird in Streitfällen zwischen den Bewohnern die Polizei nicht gerufen. Konflikte untereinander werden verbal, manchmal aber auch mit Gewalt gelöst. Das war immer schon so.

… Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte … Wer nichts las, schaute oder klickte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern, noch von Informationen und Ängsten (S. 450).

Viele der Bewohner von Unterleuten leben hier seit Jahrzehnten, haben mehrere Systeme kennen gelernt. Zugezogene (meist aus Berlin) begreifen das nicht, wollen aber immer alles anders und besser machen. Sie haben keine Ahnung! Aus der Perspektive des alten Kommunisten Kron starb mit jedem Vogelschützer und jeder Pferdefrau ein Stück des alten Unterleutens (S. 613). Berliner – das waren Menschen ohne kollektive Erinnerung. Sie begriffen nicht, dass der Weltuntergang hier bereits stattgefunden hatte. Mehrmals … Durch die Bomben des Zweiten Weltkrieges … Durch die Rotarmisten während des Vormarschs auf die Hauptstadt. Durch die Ankunft der Vertriebenen aus Ostpreußen … Durch das Errichten der Mauer und durch das Einreißen der Mauer. Die Überlebenden sprachen eine eigene Sprache und folgten einer eigenen Moral (S. 613). Mit dem Zuzug der Berliner sei eine Art Auslöschung Unterleutens in Gang gesetzt und nicht mehr aufzuhalten. Soweit die Meinung von Kron, der ich bedingungslos zustimme.

zeh_unterleuten_vogel

Kampfläufer Männchen ©Marina Menconi

Im nächsten Kapitel kann es durchaus sein, dass ich im Kopf der Pferdefrau Linda oder von Jule, der Frau des Vogelschützers, bin. Ich schaue mit ihren Augen auf die stoischen, verbohrten Bewohner von Unterleuten und begeistere mich für Windkraftanlagen, Pferdekoppeln und Kampfläufer. Juli Zeh schafft eine herrliche Verwirrung! Indem sie Kapitel für Kapitel in eine andere Figur schlüpft und aus deren Innenperspektive heraus erzählt, hat ständig jeder irgendwie Recht, auch wenn er dabei Lügen verbreitet. Das ist einfach großartig, weil ich als Leser den Meinungswechsel direkt gar nicht spüre. Denn erzählt wird die Geschichte chronologisch, es folgt ein Ereignis dem nächsten. Aber immer aus den Augen einer anderen Person. Durch den Wechsel der Perspektiven aber entsteht eine ungeheure Spannung.  Schnell erkenne ich:

Jeder in diesem Dorf hat Recht und eine ganz eigene unerschütterliche Meinung. Bürgermeister Arne: Seiner Erfahrung nach wurden die schlimmsten Übel auf der Welt nicht durch böse Menschen bewirkt. Von denen gab es erstaunlich wenige. Viel gefährlicher waren Leute, die sich im Recht glaubten. Sie waren ungeheuer zahlreich, und sie kannten keine Gnade (S. 438). Zum Schluss weiß ich als Leser selbst nicht, ob ich die Windkraftanlage für das Dorf wollen würde. Ist sie gut oder schlecht?

Ein zeitaktueller Roman also, der spannend und unglaublich klug erzählt ist. Der an Gefühlen nichts auslässt und unvergessliche Romanfiguren schenkt. Ein Roman, den man gut ein zweites und drittes Mal lesen kann. Weil beim ersten Lesen möglicherweise manches entgangen ist. Und weil man schöne Orte ja durchaus auch mehrmals besucht.

Vielleicht ist ja auch Juli Zeh gedanklich bereits wieder in Unterleuten. Warum? Weil das schönste Geschenk am Abend der Lesung in Leipzig war, dass die Autorin erzählte, sie würde bereits an einem zweiten Roman mit ein oder zwei Figuren aus Unterleuten arbeiten. Dieser aber würde dann in Berlin spielen, denn sie hätte festgestellt – man könne keinen Gesellschaftsroman schreiben und dabei Berlin auslassen.

Drei Blog-Rezensionen zu “Unterleuten”, die ich sehr gern gelesen habe und empfehle: Marina von literaturleuchtet war in kürzester Zeit von der gut konstruierten Story gefesseltBrasch & Buch findet den Roman ebenfalls intelligent konstruiert und in klarer, flüssiger Prosa formuliert. Ihn erinnern Gombrowski und Kron an zwei Filmhelden: Dieses antagonistische Konstrukt zwei Machtmänner in einem Dorf erinnert mich an die herrlich komischen, italienischen Filmhelden in meiner Kindheit: Don Camillo und PepponeUnd Karo von deep read war es ein geradezu diebisches Vergnügen, zu beobachten wie sich die scheinbare Dorfidylle immer mehr in einen Kriegsschauplatz verwandelt.

Juli Zeh. Unterleuten Luchterhand Literaturverlag München. 2016. 635 Seiten. 24,99 €



wallpaper-1019588
Final Fantasy XII – Brettspiel zum PS2-Klassiker angekündigt
wallpaper-1019588
Super Nintendo World – „Donkey Kong Country“-Eröffnung verschoben
wallpaper-1019588
Pokémon Karmesin und Purpur – Neues Tera-Raid-Event am Wochenende
wallpaper-1019588
Sonic Dream Team – Sega veröffentlicht zweites Inhaltsupdate