John Dos Passos: Manhattan Transfer

Wolfgang Krisai: Manhattan vom Greenpoint Ferry Pier in Brooklyn aus. Tuschestift-Skizze, 2015.Wenn ich schon meinem in St. Petersburg studierenden jüngsten Sohn zu Ehren einen Roman über Petersburg las, wollte ich auch meinem ältesten Sohn, der in New York arbeitet, zu Ehren einen Roman über New York lesen. Da bot sich der schon lange im Regal stehende Meilenstein der modernen Literatur „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos an.

Montage-Technik

Er soll, so weit war ich vorinformiert, der erste Roman sein, der sich der Montage-Technik bediente, und als solcher eine Anregung für Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ gewesen sein. Die amerikanische Originalausgabe er schien 1925.

Das Großstadtleben

Der Roman versucht das New Yorker Großstadtleben rund um den Ersten Weltkrieg authentisch wiederzugeben. Dos Passos bedient sich dafür einer ganzen Reihe von Figuren aus allen gesellschaftlichen Schichten vom Bettler bis zum reichen Unternehmer, von der einfachen Näherin bis zur Starschauspielerin. Typisch für das moderne Leben ist das Durcheinander von Lebens-Bruchstücken, die man mitbekommt. Man weiß von dieser ein bisschen etwas, von jenem eine Lebensepisode – aber in den seltensten Fällen kennt man einen Menschen und dessen Leben von A bis Z.

Genau das macht auch dieser Roman: Kleine Lebensabschnitte der Figuren reihen sich unvermittelt aneinander, so, als schalte man am Fernseher von Kanal zu Kanal und sähe immer nur kurze Ausschnitte aus Filmen. Da die Zahl der Fernsehkanäle aber begrenzt ist, zappt man auch immer wieder hin und zurück, sodass man aus den gleichen „Lebensfilmen“ mehrere Abschnitte mitbekommen kann. Was dazwischen war, kann man sich ungefähr zusammenreimen oder es zumindest erahnen.

Glühwürmchenzüge schusseln im Zwielicht

Es gibt eine Gliederung des ganzen Buches in drei „Bücher“ und umfangreiche Kapitel. Jedes Kapitel wird durch einen kursiv gedruckten, kurzen Anfang eingeleitet, der eine Impression der Großstadt bietet, meist ohne noch konkreten Personen zugeordnet zu sein. Das sind die sprachlich originellsten Abschnitte. Ein Beispiel: der Anfang von Kapitel drei aus dem dritten Buch:

„Glühwürmchenzüge schusseln im Zwielicht durch die nebligen Schatten spinnwebiger Brücken, Aufzüge steigen und fallen in ihren Schächten, Hafenlichter blinken.

Wie Pflanzensaft beim ersten Frost beginnen um fünf Uhr Männer und Frauen allmählich aus den hohen Gebäuden der City hervorzusickern, grauwangige Scharen überfluten U-Bahnen und Tunnelbahnen, verschwinden unter die Erde.

Die ganze Nacht lang stehen die großen Gebäude leer und still, dunkel ihre Millionen Fenster. Lichtsabbernd kauen die Fähren scharfe Spuren in den lackglatten Hafen. Um Mitternacht gleiten die vieressigen Eildampfer aus ihren grellbeleuchteten Ankerplätzchen in die Finsternis hinaus. Bankdirektoren, triefäugig von geheimen Konferenzen, hören das Tuten der Schlepper, während die Leuchtkäferwächter sie durch die Seitentüren hinauslassen. Brummend sinken sie in die Polster ihrer Limousinen und sausen auf die Vierziger zu, rasselnde Straßen voller Lichter, weiß wie Gin, gelb wie Whisky, schäumend wie Apfelwein.“ (S. 362)

Der Rest der Kapitel ist dann in weniger expressiver Sprache abgefasst und mit vielen Dialogen gespickt, sodass sich das alles sehr gut liest.

Das, was ich mir als Montage-Technik erwartet habe, nämlich das unvermittelte Ineinanderschneiden von Erzählung, Dialog, Wahrnehmungsfetzen, Werbetexten, Radiomeldungen, etc., tritt hingegen seltener in Erscheinung, und wenn, nur kurz.

Figurenarsenal

Ich hätte, um den Überblick über das Figurenarsenal des Romans nicht zu verlieren, von Anfang an eine Figurentabelle anlegen und diese Schritt für Schritt mit Daten anreichern sollen. Das habe ich jedoch nicht gemacht, daher fürchte ich, dass meine Erinnerung an die Romanfiguren noch bruchstückhafter und unsicherer ist als das, was der Autor uns serviert.

Es gibt ein paar „Hauptfiguren“, die praktisch den ganzen Roman durchziehen. Von den Frauen ist dies Ellen, die zunächst ein Musicalstar wird, später aber Journalistin.

Sie wird von zahlreichen Verehrern umkreist, von denen die männliche Hauptfigur Jimmy Herf sogar die Ehre hat, sie zu heiraten. Die Ehe geht aber nicht lange gut, der Sohn Martin kann daran auch nichts ändern.

Das Ende

Jimmy folgt man von der Kindheit an. Er ist der überbehütete Sohn einer kränklichen Mutter, die bald stirbt, wird dann von Verwandten aufgenommen und schlägt eine journalistische Laufbahn ein. Er hat die Arbeit als Reporter aber bald satt, weil er sich lediglich als „Schreibmaschine“ fühlt, die nur über das schreibt, was sich gerade zuträgt, aber niemals selbst kreativ etwas hervorbringen darf. Folglich schmeißt er seinen Job irgendwann hin und will sich als Schriftsteller versuchen. Im letzten Abschnitt des Romans trennt er sich von Ellen, gibt seine letzten Dollars für ein Essen aus und fährt dann mit einem Lastwagen ins Ungewisse:

„Ein riesiger Möbelwagen, gelb und blank, ist draußen vorgefahren.

‚Sagen Sie mal, darf ich mitfahren?’, fragt er den rothaarigen Chauffeur.

‚Wie weit wollense denn?‘

‚Das weiß ich nicht … Ziemlich weit.‘“ (Das ist, auf Seite 479, das Ende des Romans.)

Eigentlich ein Mörder

Während Jimmy Herf im gesamten Roman eine Rolle spielt, ist jene Person, mit der der Roman eröffnet wird, nur im ersten Buch vorhanden: Bud Korpenning. Dieser junge Mann vom Land kommt mit der Fähre nach New York – „Manhattan Transfer“ ist die Bezeichnung für die New Yorks Fähren – und will hier Arbeit finden, egal, welche. Das verfolgt man als Leser über einige Abschnitte mit. Doch Bud hat Pech. Niemand kann ihn brauchen. Schließlich verliert er die Nerven, erzählt in einem Obdachlosenasyl seinem Bettnachbarn, dass er eigentlich ein Mörder ist, der seinen Vater erschlagen hat und deshalb nach New York geflüchtet ist, und marschiert dann auf die Brooklyn Bridge hinaus, überklettert das Brückengeländer und stürzt sich in den East River. Eine Fährenbesatzung hat ihn aufklatschen gehört, kann ihn aber nur noch tot herausholen – mit gebrochenem Genick. Das am Ende des ersten Buches, Seite 151.

Holzbeiniger Schnapsbudenbesitzer

Daneben gibt es noch zahlreiche weitere mehr oder weniger interessante Figuren. Zum Beispiel einen holzbeinigen Besitzer einer illegalen Schnapsbude am Hafen, bei dem Jimmy gerade zu Gast ist (um eine Reportage darüber zu schreiben), als ein illegaler Champagnertransport anlegt und beim Ausladen von konkurrierenden Gaunern überfallen wird, die jedoch zurückgeschlagen werden. Allerdings geht dabei neben einigen feindlichen Schädeldecken auch das Holzbein des Wirts zu Bruch.

Während dieser piratenhafte Wirt eine eher lustige Gestalt ist, gehört Joe Harland zur gegenteiligen Kategorie: Zu Beginn gibt er guten Freunden noch bombensichere Tipps für gewinnbringende Aktienspekulationen, doch einige Kapitel später hat er sich schon gröber verspekuliert, sein Reichtum hat sich in nichts aufgelöst und er ist in der Gosse gelandet. Gelegentlich findet er noch einen ehemaligen Bewunderer, der ihm einen Vierteldollar für einen Imbiss zusteckt, aber das war’s dann schon.

Der Unfall eines Milchwagenkutschers

Eine interessante Abhängigkeit zunächst scheinbar zum gegenseitigen Nachteil, später aber doch zum Vorteil verbindet den jungen, aufstrebenden Anwalt George Baldwin mit dem Milchwagenkutscher Gus McNiel und dessen Frau Nellie. Am Ende des zweiten Kapitels der ersten Buchs gibt es einen eindrucksvollen Knalleffekt: Gus kutschiert seinen Milchwagen gedankenverloren über einen Bahnübergang und wird von einem daherrollenden Waggon niedergefahren:

„‚He – he – ogottogott!‘ schreit ein Mann am Rande des Trottoirs. ‚Obacht! Die Waggons!‘

Ein klaffender Mund unter einem Mützenschirm, eine flatternde grüne Fahne … ‚Allmächtiger Gott! Ich bin auf dem Gleis …‘ Er reißt den Kopf des Gauls zur Seite. Hinter ihm kracht es schmetternd gegen den Wagen. Waggons, der Wallach, grüne Flagge, rote Häuser wirbeln im Kreis, zerfallen in schwarze Finsternis.“ (S. 59f)

Im nächsten Kapitel sieht George Baldwin genau in diesem Unfall seine Chance: Er spricht bei Nellie vor und überredet sie, ihn mit der rechtlichen Vertretung ihres verunfallten Gatten zu beauftragen. Sie sagt zu – und verfällt dem charmanten Anwalt, der gleich ein Verhältnis mit ihr beginnt.

Die weitere Entwicklung des Ganzen überraschte mich: Baldwin erkämpft enormen Schadenersatz für Gus, was den Startschuss zu einer erfolgreichen Anwaltskarriere bedeutet; als das Verfahren abgeschlossen ist, hat Nellie von ihm genug und kehrt zum auch gesundheitlich wieder hergestellten Gus zurück, der mit dem Geld geschickt umgeht, den Milchwagen-Job an den Nagel hängt und ein wichtiger Kommunalpolitiker wird.

Es gibt also, wie man sieht, nicht nur negative Entwicklungen. Auch wenn Baldwin zugegebenermaßen zwar finanziell, nicht aber erotisch erfolgreich ist.

Gelungen

Ich könnte jetzt noch weitere Episoden erzählen. An viele erinnere ich mich kaum noch, doch das entspricht eigentlich dem Großstadtleben, wie Dos Passos es schildert: das eine geht, das andere kommt, man erlebt manches mit, anderes nur als Zuschauer am Rande, vieles höchstens vom Hörensagen. Genau das scheint mir das Anliegen des Romans zu sein: den Leser das Großstadtleben erlebbar zu machen. Und es ist gelungen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Roman. Aus dem Amerikanischen übertragen von Paul Baudisch. Lizenzausgabe für die Deutsche Buch-Gemeinschaft, etc.; Rowohlt, Hamburg, 1959. 479 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Manhattan vom Greenpoint Ferry Pier in Brooklyn aus. Tuschestift-Skizze, 2015.


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