Jan Weiler: Drachensaat.

Jan Weiler: Drachensaat.Gelegentlich treffe ich ein Buch, dass ich gar nicht kritisieren möchte. Über dessen Schwächen ich mich lieber hinwegsetze, weil sie mich nicht interessieren. Das kann einem mit Menschen auch so passieren: dann heißt es "Verliebtsein". Wenn man es so betrachtet, bin ich also in Jan Weilers Roman Drachensaat verliebt. Das hat auch, ganz subjektiv, mit dem hohen Aufkommen von Irren in der Geschichte zu tun. Ansammlungen psychisch eigenwilliger Menschen finde ich fabulös, da fühle ich mich zuhause.
Unser Begleiter durch den ersten Teil der Geschichte ist ein gewisser Bernhard Schade, dessen Leben man zurecht als verkorkst bezeichnen darf. Bernhard robbt selbsthassend von einem Tiefschlag zum nächsten, bis er sich schließlich während der Bayreuther Festspiele in den Kopf schießt. Dummerweise wird sein Selbstmordversuch als Attentat missverstanden und Bernhard landet, von den Medien als "Irrer von Bayreuth" durch die Headlines gejagt, in der Landespsychiatrie. Dort wird ein gewisser Dr. Heiner Zens auf ihn aufmerksam, der ihn postwendend in seine Privatklinik "Haus Unruh" verfrachtet, denn – so die These des Dr. Zens – Bernhard leidet an einer neuartigen Zivilisationskrankheit, die der Doktor entdeckt hat und an einer Gruppe Betroffener die Therapie wagen will.
Derweil trudeln in Haus Unruh die übrigen vier Patienten ein, von Dr. Zens persönlich ausgewählt und in die Klinik überstellt. Wir lernen Rita kennen, die in ihrem Kopf Radio hören und die Sendefrequenzen sogar essen kann. Ünal, den Busfahrer, der eines Tages die Fahrgäste nicht mehr aussteigen ließ. Den Postboten Arnold, der aufgrund seiner Sozialphobie die Briefe nicht zugestellt, sondern zuhause gehortet hat. Benno, der neun Jahre lang mit seiner toten Mutter lebte – er hatte sich halt so an sie gewöhnt. Dieses elende Grüppchen eint die erlittene Medienhatz, die Sektion ihrer Psyche in aller Öffentlichkeit. Traurige Berühmtheiten, Ausgestoßene.
Die Gesellschaft ist es auch, die Zens für das Leiden seiner Schützlinge verantwortlich macht. Er sieht die Patienten vielmehr als moralische Speerspitze, die er durch einen mysteriösen "großen Handlungsexzess" therapieren und als Vorreiter eines neuen Gesellschaftssystems etablieren will. Drachenzähne nennt Zens seine Patienten, nach der Drachensaat-Episode der Argonauten-Sage. In den Therapiesitzungen werden alsbald theoretische Möglichkeit diskutiert, wie man die Aufmerksamkeit der breiten Masse gewinnen könnte. Theoretische Möglichkeiten – aber dann läuft die Sache aus dem Ruder und die Gruppe entführt den Topmanager Barghausen.
Um nicht schon wieder zuviel zu verraten und auch aus Faulheit zitiere ich Jan Weiler: "Der zweite Teil gehört den Beschreibungen des Entführten und liest sich in Duktus und Haltung völlig anders als der erste. Im dritten Teil habe ich eine Art fiktionale Collage verwendet, um die Medienberichterstattung über den Fall darzustellen. Dabei erfährt der Leser sämtliche Hintergründe des Falles, einige lose Fäden aus den ersten beiden Teilen verbinden sich erst im dritten Teil letztlich zu einer geschlossenen Geschichte."
Dieser Dreiteilung des Romans stehe ich ein bißchen zwiegespalten gegenüber. Mir gefällt die Idee technisch gesehen sehr gut. Andererseits hätte ich die Drachenzähne gerne unmittelbar weiter begleitet, denn gerade die Lebens- und Leidensgeschichten dieser Fünf sind es, die für mich das Buch so rührend und wertvoll machen. Jan Weiler behandelt hier ein tragisches Thema mit Feinfühligkeit und Humor. Dass "die Gesellschaft" gerne Menschen ausgrenzt, die irgendwie anders ticken, ist nicht neu. Dass der Perfektionierungsdrang und die bedingungslos geforderte Leistungsbereitschaft nicht wenige krank macht. Und wer krank ist, wer keine Arbeit hat, wer an den Ansprüchen einer limitierten Rollenverteilung scheitert und der Gesellschaft auf der Tasche liegt, der ist eben Menschenschrott und kippt über den Rand. Selber schuld.
Die wenigen Längen im dritten Teil können mich hier nicht stören. Das sind Peanuts, um im Thema zu bleiben. Die Drachensaat hat mein Herz gewonnen. Und Jan Weiler meine Sympathie.

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