Istanbul: Islamisten und die Kultur der Gentrification

Istanbul: Islamisten und die Kultur der Gentrification

Istanbul: Polizeieinsatz nach Überfall auf Galerien in Tophane (http://theturkishlife.blogspot.com)

Die taz veröffentlichte vor ein paar Tagen einen längeren Beitrag über eine Massenschlägerei vor mehreren Galerien im Istanbuler Stadtteil Tophane: „Islamisten überfallen Vernissage in Istanbul„. Bereits der Titel legt nahe, dass es sich um den Akt einer religiös-fundamentalistischen Intoleranz handele. Gerüchte, die Angreifer hätten sich durch den offenen Alkoholgenuss der Galeriebesucher/innen provoziert gefühlt, bestätigen das Deutungsangebot des Beitrags. Einige der Kommentare lesen sich wie eine Mischung von Huntington („Clash of Civilizatiopns“)  und Sarrazin  und ein ‘Berthold’ gibt sich zutiefst empört über die immer noch unterschätzte „religionsfaschistische Mohammedanisierung“.

Die Islamophobie der Kommentare überrascht dabei weniger als die einseitige Darstellung des taz-Beitrags selbst. Im Tagesspiegel („In Istanbul krachen Welten aufeinander„) beispielsweise wird die Massenschlägerei vor den Galerien auf einen bereits länger bestehenden Streit um die von den Ausstellungen ausgehenden Belästigungen und die Angst vor Mietsteigerungen zurückgeführt:

Im Istanbuler Stadtteil Tophane wehren sich alteingesessene Einwohner gegen die zugezogene Schickeria – mit durchaus handfesten Argumenten.

In einigen türkischen Medien wird sogar der Widerstand gegen die Gentrification als mögliches Motiv für die Auseinandersetzung in Tophane gesehen:
Gentrification posited as motive for attack on Tophane art galleries.

Fast alle Beiträge zum Galerien-Überfall in Tophane führen die Auseinandersetzung vom 21. September auf die massiven Veränderungen des Stadtteils in den letzten Jahren zurück. Die bruchstückenhaften Informationen aus verschiedenen Artikeln und Blogbeiträgen lassen sich als typische Puzzelteile eines Gentrification-Prozesses interpretieren: Wandel der Gewerbestruktur durch kulturelle und subkulturelle Einrichtungen, Zuzug von Pionieren der Aufwertung, Sanierung der Altbausubstanzen, Mietsteigerungen.

The Art of Gentrification

Seit einigen Jahren breiten sich die Bars, Restaurants, Musikclubs und Galerien des nahegelegenen Amüsierviertels Beyoglu aus und haben auch das überwiegend von Roma und Kurden, aber auch von alteingesessene Juden, Armenier und Griechen bewohnte Tophane erreicht. Im Tagesspiegel ist von „serienweisen Eröffnungen schicke Etablissements in sanierten Altbauten“ die Rede.

Damit einhergehend haben sich bereits in der Vergangenheit Konflikte zwischen Galerienbesucher/innen und Anwohner/innen entwickelt:

Nachts setzte früher kein Außenseiter einen Fuß in das Viertel, doch das hat sich in jüngster Zeit geändert. (…) In den plötzlich modisch gewordenen Altstadtgassen treffen nun konservative Kurden und kemalistische Künstler aufeinander – und da kann es schon mal knallen. (…)

Die Stadtviertel-Zeitung „Tophane Haber“ beklagt schon seit Monaten den radikalen Wandel, dem das Viertel durch den Zuzug von Bars, Aparthotels und Restaurants unterworfen ist. „Das Geschrei der Betrunkenen und die lärmende Musik in der Nacht belästigen die ansässigen Familien zutiefst“, berichtete das Blatt erst kürzlich wieder. Die Anwohner seien vom „Sittenverfall“ in ihrem Stadtviertel aufgebracht. Tophane werde nun einmal traditionell von konservativen Familien bewohnt, sagte auch Hüseyin Dormen vom Bitlis-Verein. „Wir mischen uns nicht in den Lebensstil anderer ein, doch wir möchten auch von anderen nicht in unserem Lebensstil gestört werden.“ (Tagesspiegel)

Selbst einer der Verletzten des Überfalls führt den Konflikt auf die Aufwertungsängste der Bewohner/innen zurück:

„Da geht es nicht um Alkohol, da geht es um wirtschaftliche Verhältnisse“. Die armen Bewohner des Viertels würden durch den Zuzug betuchter Galerien und Geschäfte verdrängt, ihre Mieten seien bereits um 200 Prozent gestiegen – „sie wissen, dass sie ihr Zuhause verlieren werden“. Trotz seines blauen Auges könne er die Angreifer deshalb nicht vollständig verurteilen.

Diese Angst scheint berechtigt. In einem Artikel in der Hüriyett wird eine regelrechte Wanderung der Galerien von Beyoğlu, Galata über Tünel nach Tophane beschrieben. In der Folge hätten sich die Kaufpreise für Häuser und die Mieten innerhalb weniger Jahre um das fünf- bis zehnfache erhöht.

Auch der  Internetreiseführer TurkeyTravelRessource stellt für Tophane einen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der Kunstszene und der Aufwertung des Viertels her:

Gentrification has gathered momentum over the past year especially as the district was snazzed up, becoming first more attractive and, inevitably, more expensive. Long story short, Tophane is one of Istanbul’s addresses, perhaps ‘the’ address, for contemporary art.

Kieztaliban und die Kulturalisierung des Protestes

Was bleibt, ist die Frage, warum die taz – sonst sensibel für städtische Konfliktlinien und Proteste – den Überfall auf die Galerien in Tophane so einseitig als kulturell-religiöses Phänomen darstellt. Die Beiträge anderer Zeitungen zeigen, dass es Anwohner/innen, Künstler/innen und sogar Opfer des Überfalls gegeben hat, die einen Zusammenhang zwischen dem Verdrängungsdruck und den Auseinandersetzungen herstellen.  Doch wie es der Zufall so wollte, haben die offenbar nicht mit der taz gesprochen. Im Gegensatz zur Sachberichterstattung der anderen Artikel basiert die Glaubwürdigkeit des taz-Beitrages vor allem auf Zitaten von Augenzeug/innen und Beteiligten. Hier die Deutungsangebote der O-Töne:

„Sie hatten abgebrochene Flaschen in der Hand und schrien Allah-u Akbar.“  (ein Künstler)

„Das waren die Religiösen von der Bruderschaft. Sie leben hier im Viertel“ (eine Verkäuferin)

„Das waren die Bärtigen. Ich lebe hier seit 60 Jahren. Das Viertel hat sich sehr verändert.“ (eine Anwohnerin)

„Das ist eine Wohngegend hier. Ihr könnt hier keinen Alkohol trinken“ (ein Angreifer)

Während Anti-Gentrification-Proteste von Künstler/innen hierzulande (Gängeviertel, Tacheles) von der taz eine breite publizistische Unterstützung fanden, werden die Aspekte des Stadtteilprotestes in Tophane völlig ausgeblendet. Protestierende Künstler/innen sind o.k. – Proteste gegen Künstler/innen sind talibanös.



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