Irak – zehn Jahre nach Null

Vor zehn Jahren erschien in den Blättern für deutsche und internationale Politik die Reportage Bagdad im Jahr Null von Naomi Klein, die im Jahr 2004 in den vom Krieg zerstörten Irak gereist war, um sich anzusehen, wie gut die von der Bush-Regierung vorgesehene neokonservative Schocktherapie funktionierte, mit der das Aufbau-Programm für den Irak eingeleitet werden sollte. Sie funktionierte überhaupt nicht. Im Gegenteil: Sie führte zu Terror, Gewalt und den Anfängen des Phänomens, das heute als Islamischer Staat bekannt und außer Kontrolle geraten ist.

Was sich die Neocons vorstellten, beschreibt Klein wie folgt:

Gier ist gut! Gut nicht nur für sie und ihre Freunde, sondern für die ganze Menschheit, ganz gewiss aber für die Iraker. Gier erzeugt Profit, der schafft Wachstum, und das wiederum produziert Jobs, Güter, Dienstleistungen und überhaupt alles, was irgendwer braucht oder wünscht. Gute Regierungen haben also die Aufgabe, die bestmöglichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Unternehmen ihrer bodenlosen Gier frönen können, damit sie ihrerseits die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen können. Das Problem ist nur, dass Regierungen, selbst neokonservative, kaum je die Chance bekommen, die Richtigkeit ihrer geheiligten Theorie zu beweisen: Selbst die Republikaner des George W. Bush werden, jedenfalls ihrer Ansicht nach, trotz enormer ideologischer Bodengewinne ununterbrochen sabotiert – von Demokraten, die sich ständig einmischen, Gewerkschaften und alarmistischen Umweltschützern.

Mit dem Irak würde sich all das ändern. Endlich ein Ort auf dieser Welt, wo man die Theorie in die Praxis umsetzen konnte, und zwar in ihrer unverfälschten, perfekten Form. Dieses Land mit seinen 25 Millionen Einwohnern würde nicht wiederaufgebaut werden, wie es vor dem Krieg war; es wäre ausradiert, einfach verschwunden. Stattdessen würde eine glitzernde Mustermesse der Laissez-Faire-Ökonomie aus dem Boden schießen, ein Utopia, wie es die Welt noch nicht gesehen hätte. Buchstäblich jede politische Maßnahme, die multinationalen Konzernen die Freiheit verschafft, ungestört ihrem Profitstreben zu folgen, würde man hier anwenden: geschrumpfter Staat, flexible Arbeitskräfte, offene Grenzen, minimale Steuern, keine Zölle und keinerlei Einschränkung der Eigentumsrechte. Natürlich brächte das für die Bevölkerung des Irak kurzfristig einige Härten mit sich: Vormals staatliche Einrichtungen würde man aufgeben müssen, um neue Wachstums- und Investitionsgelegen- heiten zu schaffen; zwangsläufig würden Arbeitsplätze verloren gehen, und während ausländische Produkte über die Grenze strömten, würden einheimische Gewerbe und landwirtschaftliche Familienbetriebe unglücklicherweise ihre Konkurrenzfähigkeit verlieren. Aber die Urheber dieses Plans nahmen das alles gerne in Kauf – um des wirtschaftlichen Booms willen, der mit Sicherheit und geradezu explosionsartig ausbrechen würde, sobald man nur die richtigen Voraussetzungen geschaffen hätte; ein so gewaltiger Boom, dass sich das Land praktisch von selbst wiederaufbauen würde.

Bekanntlich ist das anders gekommen, Naomi Klein beschreibt das, was sie sieht und erlebt, sehr anschaulich und kommt zu folgendem Fazit:

Die historische Ironie der irakischen Katastrophe besteht darin, dass die Schocktherapie-Reformen, von denen man die Auslösung eines Wirtschaftsbooms und den Wiederaufbau des Landes erwartete, stattdessen einen Widerstand entfacht und immer wieder angeheizt haben, der den Wiederaufbau letzten Endes unmöglich machte. (L. Paul) Bremers Reformen setzten Kräfte frei, die die Neocons weder vorhergesagt hatten, noch zu kontrollieren hoffen konnten – von bewaffneten Erhebungen in den Fabriken bis zu Zehntausenden arbeitsloser junger Männer, die sich selbst bewaffneten. Diese Kräfte haben das irakische Jahr Null in das spiegelbildliche Gegenteil jener Vision verkehrt, die den Neocons vorschwebte: kein unternehmerisches Utopia, sondern ein dämonisches Dystopia, wo es jemandem, der zu einem ganz gewöhnlichen Geschäftstermin unterwegs ist, passieren kann, dass er gelyncht, bei lebendigem Leibe verbrannt oder enthauptet wird. Diese Gefahren sind so groß, dass der Weltkapitalismus im Irak – zumindest für den Augenblick – zurückweicht. Den Neocons versetzt diese Entwicklung einen furchtbaren Schock: Ihr ideologisch grundierter Glaube an die Gier war, wie sich herausstellt, stärker als die Gier selbst.

Für die Neocons war der Irak, was Afghanistan für die Taliban war: der eine und einzige Ort auf Erden, wo sie jedermann zwingen konnten, streng nach der allerwörtlichsten, unnachgiebigsten Auslegung ihrer heiligen Texte zu leben. Man sollte meinen, die blutigen Resultate dieses Experiments lösten eine Glaubenskrise aus: Ausgerechnet in dem Land, wo sie absolut freie Hand hatten, wo keine einheimische Regierung sich einmischen (und als Sündenbock herhalten) konnte, wo die Wirtschaftsreformen so schockartig und so komplett eingeführt wurden, wie es nirgendwo sonst denkbar war – ausgerechnet dort hatten sie statt eines Modells freier Marktwirtschaft einen failed state geschaffen, in den kein halbwegs klar denkender Investor auch nur einen Fuß setzen würde. Und dennoch werden die Neocons der Grünen Zone und ihre Meister in Washington ihre Glaubenssätze wohl ebenso wenig überdenken, wie die Taliban und ihre Mullahs an Seelenerforschung dachten, als ihr islamischer Staat zur Hölle wurde, zum Hort von Opium und sexueller Sklaverei. Wahre Gläubige schließen, wenn die Tatsachen sie bedrängen, ganz einfach die Augen und beten noch inbrünstiger.

Genau das tat Thomas Foley. Der frühere Chef der Abteilung „Entwicklung des Privatsektors“ verließ den Irak, das Land, das er als „die Mutter aller Kehrtwenden“ beschrieb, um einen anderen Kehrtwenden-Job anzutreten, als Vizechef des Wahlkomitees für George W. Bush in Connecticut. Am 30. April sprach er in Washington vor Unternehmern über geschäftliche Aussichten in Bagdad. Kein guter Tag für aufbauende Reden: Am gleichen Vormittag waren die ersten Fotos aus Abu Ghraib erschienen, darunter das Bild eines Gefangenen mit verhülltem Kopf und elektrischen Drähten an den Händen. Es ging um eine andere Art Schocktherapie, viel wörtlicher zu nehmen als die, an der Foley mitgewirkt hatte, aber es gab durchaus einen Zusammenhang. „Egal, was Sie sehen – es ist nicht so schlimm, wie es scheint“, klärte Foley die versammelten Geschäftsleute auf. „Das müssen Sie mir einfach glauben.“

Wie wir inzwischen wissen, war es noch viel schlimmer. Und ist es bis heute.



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